Mahlstrom
viele andere auch. Sie war ebenso sehr Opfer wie Straftäterin. Es hatte keinen Sinn, die arme Frau zu bestrafen – man sollte ihr besser helfen, nun, da sie keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr dar stellte.
Martin Perreault weiß nicht, ob er das glauben soll. Von solchen Leuten ist er keine Gnade gewöhnt. Er hält es für wahrscheinlicher, dass die Gerüchte stimmen und dass es einfach nicht genügend Mittel gibt, um Sou-Hon und die anderen Kriminellen strafrechtlich zu verfolgen. Denn es gibt ganze Heerscharen von ihnen.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich die Leute mit den glitzernden Augen damit begnügt haben, sie lediglich zu lähmen. Sie hätten Martins Frau auch Augenlicht und Gehör nehmen können, doch diese Nerven zu durchtrennen, hätte fünfzehn Minuten in Anspruch genommen und nicht fünf. Vielleicht können sie nicht einmal so viel Zeit erübrigen. Vielleicht gibt es so viele Umstürzler, dass sich das System schon sehr beeilen muss, um sie alle ruhig stellen zu können.
Außerdem kann Sou-Hon Perreault nicht mehr länger Einfluss auf die Ereignisse in der Welt nehmen. Was für Schaden könnte sie schon noch anrichten, indem sie zuschaut?
Jetzt tut sie nicht einmal mehr das. Sie liegt zusammengerollt auf dem Boden und gibt leise wimmernde Geräusche von sich. Das Headset liegt auf der anderen Seite des Zimmers. Ihr scheint nicht aufgefallen zu sein, dass sie es verloren hat. Martins Anwesenheit scheint sie ebenfalls nicht zu bemerken.
Er streichelt ihr Gesicht und murmelt ihren Namen und zuckt in Erwartung eines gewalttätigen Ausbruchs oder plötzlicher Verachtung zusammen. Doch nichts passiert. Sou-Hon reagiert überhaupt nicht. Er geht in die Knie und schiebt seine Arme unter ihre Beine und Schultern. Sie scheint kaum noch etwas zu wiegen. Sie regt sich in seinen Armen, als er sie anhebt, und vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust. Immer noch sagt sie kein Wort.
Nachdem er sie ins Bett gebracht hat, geht er in ihr Büro zurück. Aus Sou-Hons abgelegtem Headset strömt ein diffuser Wirrwarr aus Licht auf den Teppich. Als er sich die Hardware auf den Kopf setzt, sieht er sich einer Satellitenkamera-Aufnahme vom westlichen N'AmPaz gegenüber. Sie wirkt seltsam undeutlich. Die ganze Hemisphäre liegt im Dunkeln, das Bild wird nicht von den üblichen Kontrastverstärkern aufgehellt. Städtische Ballungszentren funkeln in Süd-Kai und auf den Queen Charlottes wie Galaxienkerne. Der mittlere Westen ist ein diffuses Leuchten von unten angestrahlter Wolken. Der Staubgürtel dringt von Osten her dort ein wie ein dunkler Tumor. Alles ist grob und unverfälscht, so wie man es mit nacktem Auge sehen würde, ohne jede Unterstützung durch Radar oder Infrarot. Es sieht Sou-Hon gar nicht ähnlich, ihr sensorisches Fenster auf diese Weise zu beschränken. Die einzige taktische Erweiterung sind eine Art Timer, der auf einer Seite des Bildes abläuft, und eine helle Einblendung ein paar hundert Kilometer östlich des Pazifiks. Eine funkelnde orangefarbene Linie, die von SüdKal bis hoch nach BC parallel zur Küste verläuft. Selbst ihr fehlt die präzise Darstellung, die die meisten Computergrafiken auszeichnet – die Linie wirkt verschwommen, an manchen Stellen ist sie sogar durchbrochen. Martin zoomt sie näher heran und dann noch näher. Auflösung und Helligkeit nehmen zu: die orangene Linie schwillt an, funkelnd und zuckend …
Es ist keine Einblendung.
+56St14M23s zeigt der Timer an, der vor seinen Augen weiterläuft.
Das ergibt keinen Sinn. Wie kann irgendein Feuer so lange so lichterloh brennen? Die Flammen müssen doch längst alles verzehrt haben, alle Brennstoffe in Asche und alles andere in Schlacke verwandelt haben. Irgendwie brennt es jedoch weiter, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz.
Dort an der Ostgrenze ein Flecken relativer Dunkelheit, wo die Flammen zu ersterben scheinen. Mit so etwas wie stumpfsinniger Erleichterung sieht Martin zu, wie er sich ausbreitet, bis der aufgeblasene schwarze Torus eines schweren Lifters zwischen Erde und Himmel vorbeifliegt. Durch die Satellitenkamera betrachtet, sieht es so aus, als würde die Silhouette des Merkur einen Sonnenfleck passieren. Doch selbst aus dieser Entfernung ist der helle Schweif, den er hinter sich herzieht, nicht zu übersehen. In seinem Kielwasser lodern die ersterbenden Flammen hell auf, gewaltsam wieder zum Leben erweckt.
Da begreift er: Sie lassen es nicht ausgehen. Von Oakland bis nach Kitimat wird das Feuer
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