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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Lage.«
    Natürlich tut es das. Sie weiß, wo wir sind, also müssen es auch andere wissen. Selbst wenn sie uns in Ruhe lässt – wie viele andere gibt es, die gern Rache nehmen würden?
    Ich weiß, dass ich den Wunsch dazu hätte.
    Rowan betrachtete die Frau vor sich. Von außen wirkte Lenie Clarke klein. Ein schmales, mageres Mädchen. Bei Weitem nicht so groß und fies und furchterregend, wie sie es in ihrem Innern war.
    »In wessen Namen sprechen Sie, Ms. Clarke? Verabschieden Sie sich nur persönlich von uns, oder erheben Sie den Anspruch, Botschafterin der ganzen Welt zu sein?«
    »Ich spreche im Namen der Gewerkschaft«, sagte die Meerjungfrau.
    »Der Gewerkschaft?«
    »Diejenigen, die Sie beobachten. Ken und ich und all die anderen, die mit Schläuchen in der Brust herumlaufen, nachdem Ihr großartiges Experiment gescheitert ist. Die Gewerkschaft. Ein alter Begriff aus dem 20. Jahrhundert. Ich dachte, Sie würden ihn vielleicht kennen.«
    Rowan schüttelte den Kopf. Selbst jetzt unterschätze ich sie noch.
    »Sie werden dort draußen also einfach nur Wache halten?«
    Clarke nickte.
    »Um dafür zu sorgen, dass die alte, gefährliche Infektion nicht wieder in die Welt hinausgelangt?«
    Ein Lächeln. Ein leichtes Nicken als Anerkennung für die Metapher.
    »Wie lange? Sechs Monate? Zehn Jahre?«
    »So lange, wie es eben dauert. Keine Sorge, wir schaffen das schon. Wir wechseln uns ab.«
    »Sie wechseln sich ab?«
    »Sie haben eine Menge von uns geschaffen, Pat. Vielleicht haben Sie ja den Überblick verloren. Und unsere Fähigkeiten sind ziemlich eingeschränkt. Es gibt sowieso nicht viel, was wir sonst tun könnten.«
    »Es … tut mir leid«, stieß Rowan hervor.
    »Das muss es nicht.« Lenie Clarke drehte sich zur Sichtluke um und beugte sich vor. Ihre Augen leuchteten – weiß, aber nicht leer. Sie hob die Hand und berührte die Dunkelheit.
    »Wir sind für diesen Ort geschaffen«, sagte sie.

Epilog

Schlafen im Feuerschein
    Die leisen, gedämpften Geräusche, die aus dem Büro herausdringen, sind vollkommen unverständlich. Sie klingen nicht einmal mehr menschlich. Martin Perreault folgt ihnen über die Schwelle zu den Überresten dessen, was einmal seine Frau gewesen ist.
    Seit Monaten hat sie ihn nicht mehr hier hereingelassen. Anfangs war sie lediglich ungeduldig über seine Gegenwart und beschwerte sich darüber, dass er sie auf die eine oder andere Weise ablenken würde. Später schrie sie ihn an, wann immer er hereinkam, und hielt ihn mit Händen, Worten und manchmal sogar mit geworfenen Gegenständen auf Abstand. »Siehst du nicht, dass alles aus den Fugen gerät?« , rief sie wütend. »Kannst du nicht einmal über deinen eigenen lausigen Tellerrand blicken? Siehst du nicht, dass sie Hilfe braucht?«
    Schließlich, nachdem die Leute mit den glitzernden ConTacs, den ruhigen, unerbittlichen Worten und der kleinen, leise summenden Pazifizierungsmechfliege an ihrer Seite – nur für alle Fälle – an ihrer Tür erschienen waren, verlor Sou-Hon auch noch den letzten Anschein öffentlicher Billigung. Sie sah sie nicht kommen. Der Pfeil steckte bereits in ihrem Nacken, bevor sie sich auch nur auf ihrem Stuhl hatte umdrehen können. Als sie wieder aufwachte, war ihr Büro halb ausgeweidet: sämtliche motorischen Nerven waren herausgerissen, alle Stimmkanäle an der Quelle erstickt. Jeder Hauch von Einfluss, den sie einmal besessen hatte, war dahin.
    Es war so, als sei man vom Hals abwärts gelähmt, sagte sie. Sie hatte ihm die Schuld gegeben. Er hatte die Leute hereingelassen. Er hatte sie nicht beschützt. Er hatte kollaboriert.
    Martin widersprach nicht. Es war alles wahr.
    Damals waren es nicht die Vorwürfe und die Anschuldigungen, die ihm Angst einjagten, sondern der monotone, gleichgültige Tonfall, mit dem Sou-Hon sie aussprach. Die Frau, die ihn angeschrien hatte, war irgendwie verschwunden, und das Ding, das ihren Platz einnahm, hätte ebenso gut aus flüssigem Stickstoff bestehen können. Es zog sich in das zurück, was von seinem Büro übrig geblieben war und stellte in beiläufigem Tonfall fest, dass es Martin Perreault umbringen würde, wenn er jemals wieder hereinkäme. Dann schlug es ihm die Tür vor der Nase zu.
    Es wurde keine Anklage erhoben. Die Leute mit den glitzernden Augen sprachen verständnisvoll über das Trauma, das Sou-Hon unlängst erlitten hatte, über ihre gegenwärtige Verzweiflung und ihren verwirrten Zustand. Sie war von anderen ausgenutzt worden, sagten sie. So wie

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