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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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bestimmte Fütterungszeiten programmiert war, würdigte die Katze keiner Antwort.
    Desjardins ließ sich auf das Sofa sinken und blickte auf die Stadtlandschaft, ohne etwas zu sehen.
    Du hättest es wissen müssen , sagte er sich.
    Er hatte es gewusst. Vielleicht hatte er es auch einfach nur nicht wahrhaben wollen. Und bisher war es nicht seine Schuld gewesen. Er war lediglich der Spur gefolgt, hatte gesehen, wie andere die nötigen Schritte unternommen hatten, und diese Daten zum Wohle der Allgemeinheit durch seine Modelle und Filter gejagt. Stets zum Wohle der Allgemeinheit.
    Diesmal jedoch hatte es kein Feuer gegeben. Die Kräfte der Eindämmung waren noch nicht auf die Zone gestoßen. Bis jetzt hatten sie nur ihre eigenen Spuren verwischt, hatten alles …
    … und jeden …
    … sterilisiert, die irgendwie mit der Quelle in Berührung gekommen waren. Aber sie wussten noch nicht, wie sie ßehemoth direkt aus der Ferne aufspüren konnten. Das war der Auftrag, den er und Jovellanos erfüllen sollten.
    Und nun sah es so aus, als hätten sie Erfolg gehabt. Desjardins dachte darüber nach, welchen Unterschied es machte, einer Aschespur zu folgen oder selbst das Feuer zu legen.
    Eigentlich sollte es keine Rolle spielen. Schließlich bist nicht du es, der den Flammenwerfer betätigt.
    Du weist ihm nur das richtige Ziel.
    Das Schuldgefühl regte sich in seinem Innern, unruhig wie ein eingesperrtes Tier, auf der Suche nach etwas, in das es seine Zähne schlagen konnte.
    Also? Tu deine Pflicht, verdammt noch mal! Sag mir, was ich tun soll!
    Natürlich funktionierte das Schuldgefühl nicht auf diese Weise. Es war nur der Stock und nicht die Karotte, ein neurochemischer Zensor, der die kleinste Regung von Schuld oder Gewissen oder – für die Pedanten im Publikum – der amoralischen Furcht davor, mit der Hand in der Keksdose erwischt zu werden, unterdrückte. Man konnte es nennen, wie man wollte. Namen änderten nichts an den Seitenketten und Peptidverbindungen und Carboxyl-Dingsdas, auf denen das Ganze beruhte. Die Schuld war ein Neurotransmitter und Moral eine chemische Verbindung. Und alles, was Nervenimpulse auslöste und dafür sorgte, dass sich die Muskeln bewegten und man mit der Zunge wackeln konnte – das alles waren ebenfalls chemische Verbindungen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendjemand herausfand, wie man sie miteinander verknüpfen konnte.
    Das Schuldgefühl bewahrte einen davor, die falschen Entscheidungen zu treffen, und die Absolution erlaubte es einem, damit zu leben, wenn man die richtigen getroffen hatte. Aber man musste zumindest der Meinung sein, dass man wusste, was richtig und was falsch war, ehe das Schuldgefühl in Aktion treten konnte. Es reagierte nur auf intuitive Gefühle.
    Er hatte noch nie zuvor bedauert, dass das Schuldgefühl ihm nicht sagte, was er zu tun hatte. Das hatte er nie gebraucht. Sicher, es würde ihn auf der Stelle erstarren lassen, wenn er versuchen würde, sich in sein Bankkonto einzuhacken und auf seine Kreditwürdigkeit Einfluss zu nehmen. Doch was die Fälle betraf, mit denen er es bei seiner Arbeit zu tun bekam, da lenkte das Schuldgefühl ihn höchstens in die Richtung dessen, was ohnehin völlig offensichtlich war. Situationen, bei denen alle Beteiligten auf der Verliererseite standen, waren nun einmal seine Spezialität. Einen Teil amputieren oder das Ganze verlieren? Eine zwar unangenehme, aber eindeutige Entscheidung. Zehn töten, um Hunderte zu retten? Da ringt man die Hände, beißt in den sauren Apfel und gibt sich hinterher die Kugel. Aber er hatte sich noch nie gefragt, was er tun sollte.
    Wie viele Menschen habe ich von der Außenwelt abgeschnitten, um diesen Brucellose-Ausbruch in Argentinien unter Kontrolle zu bekommen? Wie viele habe ich in Tongking den Fluten überantwortet, als ich in den Entwässerungssystemen den Strom abgeschaltet habe?
    Notwendige Schritte hatten ihm noch nie Probleme bereitet. Nicht so wie jetzt. Alice und ihre abfälligen Bemerkungen darüber, dass ich die Welt nur in Schwarz und Weiß sehen würde. Alles Quatsch. Ich sehe die Grautöne, ich sehe Millionen von Grautönen. Aber früher wusste ich wenigstens noch, wie ich den hellsten Ton heraussuchen kann.
    Doch inzwischen wollte ihm das nicht mehr gelingen.
     
    Er konnte den Augenblick, als sich alles verändert hatte, beinahe auf die Sekunde genau bestimmen: Als er nämlich gesehen hatte, wie ein Tauchboot, das für die Tiefsee konstruiert war, und das Cockpit

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