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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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jetzt eine Zeit lang alleine sein.«
    »Okay«, sagte Tracy.
     
    Sie lernte, wie man Holz hackt und ein Feuer anzündet, nicht nur draußen in der Feuergrube, sondern auch in dem großen schwarzen Ofen in der Blockhütte – der musste über hundert Jahre alt sein. Sie mochte den Geruch von brennendem Holz, auch wenn es ihr nicht gefiel, wenn der Wind drehte und sie den Rauch in die Augen bekam. Sie gingen beinahe jeden Tag im Wald wandern und beobachteten abends, wie die Sterne aufgingen. Tracys Papa hielt die Sterne für etwas ganz Besonderes – »Eine solche Aussicht hat man in der Stadt nicht, was, Limaböhnchen?« –, aber Tracy fand das Planetarium in ihrer Armbanduhr viel schöner, auch wenn man die Datenbrille aufsetzen musste, um es sehen zu können. Trotzdem beschwerte sich Tracy nicht. Sie konnte sehen, dass es Papa sehr wichtig war, dass ihr diese ganze Sache mit dem Urlaub gefiel. Also lächelte sie nur und nickte. Und Papa war eine Zeit lang glücklich.
    Nachts aber, wenn sie sich auf dem Feldbett zusammenkuschelten, hielt er sie lange in den Armen und ließ sie nicht mehr los. Manchmal drückte er sie so fest an sich, dass es schon beinahe weh tat; dann wieder schmiegte er sich nur von hinten an sie, ohne sich zu rühren oder sie an sich zu drücken, und war dabei ganz angespannt.
    Einmal wachte Tracy mitten in der Nacht auf, und ihr Papa weinte. Er hielt sie fest umschlungen und gab kein Geräusch von sich. Aber hin und wieder zitterte er ein wenig, und Tränen tropften auf Tracys Nacken. Tracy lag ganz still da, damit ihr Papa nicht merkte, dass sie wach war.
    Am nächsten Morgen fragte sie ihn – wie sie es immer noch gelegentlich tat –, wann Mami kommen würde. Ihr Papa sagte nur, dass es Zeit wäre, die Blockhütte zu fegen.
     
    Ihre Mami kam nicht. Aber dafür jemand anderes.
    Sie räumten gerade nach dem Abendbrot auf. Sie waren den ganzen Tag über wandern gewesen, zu dem Gletscher am anderen Ende des Sees, und Tracy freute sich schon darauf, ins Bett gehen zu können. Aber in der Blockhütte gab es keine Geschirrspülmaschine, deshalb mussten sie ihr ganzes Geschirr in der Spüle abwaschen. Tracy trocknete ab und schaute dabei in die Dunkelheit jenseits des Fensters hinaus. Wenn sie sich sehr anstrengte, konnte sie durch die Fensterscheibe eine gezackte, kleine Ecke des dunkelgrauen Himmels sehen, eingerahmt von den schwarzen Umrissen der windgepeitschten Bäume. Die meiste Zeit sah sie allerdings nur ihr eigenes Spiegelbild, das sie aus der Dunkelheit heraus anblickte, und das hell erleuchtete Innere der Blockhütte dahinter.
    Doch dann schaute sie nach unten, um einen Teller abzuwischen, und ihr Spiegelbild folgte ihr nicht.
    Sie sah wieder aus dem Fenster. Ihr Spiegelbild sah merkwürdig aus. Verschwommen, als wäre es nicht eines, sondern zwei. Und seine Augen waren ebenfalls ganz seltsam.
    Das bin nicht ich , dachte Tracy und spürte, wie sie ein Schauer durchlief.
    Dort draußen war etwas anderes , das Gesicht eines Gespensts, das zu ihr hereinschaute – und als Tracy staunend die Augen und den Mund aufriss, schaute sie das andere Gesicht einfach nur aus der Dunkelheit und dem Wind an, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Papa« , versuchte sie zu sagen, doch sie brachte nur ein Flüstern heraus.
    Anfangs schaute Papa nur sie an. Schließlich blickte er auf das Fenster, und auch er riss Augen und Mund ein wenig auf. Aber nur einen kurzen Moment. Dann ging er zur Tür.
    Das schwebende Gespenstergesicht auf der anderen Seite des Fensters folgte ihm.
    »Papa«, sagte Tracy, und ihre Stimme klang ganz kleinlaut. »Bitte, lass es nicht herein.«
    » Sie , Limaböhnchen. Nicht es«, sagte Papa. »Und sei nicht albern. Dort draußen ist es furchtbar kalt.«
     
    Es war doch kein Gespenst. Es war eine Frau, die kurze, blonde Haare hatte, genau wie Tracy. Ohne ein Wort kam sie durch die Tür herein. Der Wind draußen versuchte, ihr zu folgen, aber Tracys Papa sperrte ihn aus.
    Ihre Augen waren weiß und leer. Sie erinnerten Tracy an den Gletscher am anderen Ende des Sees.
    »Hallo«, sagte Tracys Papa. »Willkommen in unserem … äh … Zuhause fern der Heimat.«
    »Danke.« Die Frau blinzelte über diesen furchterregenden, weißen Augen. Es müssen Kontaktlinsen sein, dachte Tracy. Wie diese Con-Tacs, die manche Leute tragen. Sie hatte noch nie welche gesehen, die so weiß waren.
    »Na ja, eigentlich ist es gar nicht unser Zuhause. Wir wohnen nur eine Zeit lang hier, wissen Sie. Sind Sie

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