Mahlstrom
vom MNR?«
Die Frau legte ein wenig den Kopf schräg und stellte eine Frage, ohne den Mund zu öffnen. Abgesehen von den Augen sah sie wie eine ganz normale, zum Wandern ausgerüstete Frau aus. Gore-Tex und Rucksack und all das.
»Ministerium für natürliche Ressourcen«, erklärte Tracys Papa.
»Nein«, sagte die Frau.
»Nun, dann können wir hier wohl alle zusammen Hausfriedensbruch begehen, was?«
Die Frau sah zu Tracy hinab und lächelte. »Hallo.«
Tracy machte einen Schritt rückwärts und stieß gegen ihren Papa. Papa legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie, als wollte er sagen: Ist schon in Ordnung.
Die Frau sah wieder zu Tracys Papa hoch. Ihr Lächeln war verschwunden.
»Ich wollte nicht stören«, sagte die Frau zu ihm.
»Ach, Unsinn. Wir sind schon ein paar Wochen hier. Gehen wandern. Erkunden die Gegend. Wir haben die Stadt verlassen, bevor sie abgeriegelt wurde. Früher war ich … das heißt, das Jahrhundertbeben hat nicht viel übrig gelassen, was? Es herrscht ein ziemliches Durcheinander. Aber ich kannte diese Hütte, weil ich schon einmal beruflich hier zu tun hatte. Wir wollen abwarten, bis sich alles wieder etwas beruhigt hat.«
Die Frau nickte.
»Ich bin Gord«, sagte Tracys Papa. »Und das ist Tracy.«
»Hallo, Tracy«, sagte die Frau. Sie lächelte wieder. »Für dich sehe ich wahrscheinlich ziemlich merkwürdig aus, oder?«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Tracy. Ihr Papa drückte ihr erneut die Schultern.
Das Lächeln der Frau schwand ein wenig.
»Na, jedenfalls«, sagte Papa, »wie schon gesagt, ich bin Gord, und das ist Tracy.«
Erst dachte Tracy, die fremde Frau würde gar nicht antworten. Doch dann sagte sie: »Lenie.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Lenie. Was führt Sie hierher in die Berge?«
»Ich bin unterwegs nach Jasper«, sagte sie.
»Haben Sie Familie dort? Freunde?«
Lenie antwortete nicht auf seine Frage. »Tracy«, sagte sie stattdessen, »wo ist denn deine Mama?«
»Sie ist …«, begann Tracy und konnte den Satz nicht beenden.
Es war, als hätte irgendetwas ihr die Kehle zugeschnürt. Wo ist denn deine Mama? Sie wusste es nicht. Oder eigentlich wusste sie es doch. Aber Papa wollte nicht darüber reden …
Mami ist weg, Limaböhnchen. Wir beide werden jetzt eine Zeit lang alleine sein.
Wie lange war eine Zeit lang?
Mami ist weg.
Plötzlich bohrten sich Papas Finger so fest in ihre Schultern, dass es weh tat.
Mami ist …
»Das Erdbeben«, sagte Papa, und seine Stimme klang angespannt, wie immer, wenn er wütend war.
… weg.
»Tut mir leid«, sagte die fremde Frau. »Das wusste ich nicht.«
»Ja, nun, vielleicht denken Sie beim nächsten Mal erst einmal nach, bevor Sie …«
»Sie haben recht. Das war gedankenlos von mir. Es tut mir leid.«
»Ja.« Papa klang nicht überzeugt.
»Ich … ich habe dasselbe erlebt«, sagte Lenie. »Mit meiner Familie.«
»Tut mir leid«, sagte Tracys Papa, und plötzlich klang er gar nicht mehr wütend. Er glaubte wohl, Lenie spreche über das Erdbeben.
Doch irgendwie wusste Tracy, dass das nicht stimmte.
»Schauen Sie«, sagte ihr Papa. »Sie dürfen gern ein oder zwei Tage hier bleiben, wenn Sie wollen. Wir haben genug zu essen, und es gibt zwei Betten. Tracy und ich können in einem Bett schlafen.«
»Schon gut«, sagte Lenie. »Ich kann auch auf dem Boden schlafen.«
»Das ist wirklich kein Problem. Wir schlafen auch so manchmal in einem Bett, nicht wahr, Böhnchen?«
»Tatsächlich?« Lenies Stimme klang merkwürdig und ausdruckslos. »Ich verstehe.«
»Und wir … wir haben alle so viel durchgemacht, wissen Sie. So viel … verloren. Wir sollten einander helfen, wenn wir es können, meinen Sie nicht auch?«
»Oh ja«, sagte Lenie und sah dabei Tracy an. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
Am nächsten Morgen ging Tracy nach dem Frühstück zum Wasser hinunter. Da war eine kleine Felsbank, die über einen steilen Abhang hinausragte. Tracy konnte sich über den Rand beugen und ihr eigenes dunkles Spiegelbild sehen und das klare, graublaue Wasser darunter. Tracy ließ kleine Steine ins Wasser fallen und sah ihnen hinterher, doch die Dunkelheit verschluckte sie, ehe sie den Grund erreicht hatten.
Plötzlich blickte ihr ein weiteres Spiegelbild entgegen, wie schon in der Nacht zuvor.
»Es ist schön dort unten«, sagte Lenie dicht hinter ihr. »Friedlich.«
»Es ist tief«, sagte Tracy.
»Nicht tief genug.«
Tracy drehte sich auf dem Felsen herum und blickte zu der seltsamen Frau hoch.
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