Mahlstrom
Sie hatte ihre weißen Kontaktlinsen herausgenommen. Ihre Augen waren blassblau.
»Ich habe dort unten noch keine Fische gesehen«, sagte Tracy.
Lenie ließ sich im Schneidersitz neben ihr nieder. »Das ist ein Gletschersee.«
»Ich weiß«, sagte Tracy stolz. Sie deutete auf die Eiszunge auf der anderen Seite des Sees. »Vor langer Zeit war die halbe Welt damit bedeckt.«
Lenie lächelte ein wenig. »Tatsächlich?«
»Vor zehntausend Jahren «, sagte Tracy. »Und selbst vor hundert Jahren reichte das Eis noch beinahe bis zu der Stelle, wo wir jetzt sitzen, und es war zwanzig Meter hoch, und die Leute kamen hierher und sind mit Motorschlitten und so darauf herumgefahren.«
»Hat dein Papa dir das erzählt?«
Tracy nickte. »Mein Papa ist ein Waldökologe .« Sie deutete auf eine Ansammlung von Bäumen in der Nähe. »Das sind Douglastannen . Davon gibt es inzwischen sehr viele, weil sie Feuer überleben können und Trockenheit und alle möglichen Schädlinge. Den anderen Bäumen geht es aber nicht so gut.« Sie blickte wieder in das kalte, klare Wasser hinunter. »Ich habe noch keine Fische gesehen.«
»Hat dir dein … Papa gesagt, dass es in dem See Fische gibt?«, fragte Lenie.
»Er hat gesagt, ich soll danach Ausschau halten. Er hat gesagt, vielleicht habe ich ja Glück.«
Lenie erwiderte etwas, das auf gedacht endete.
Tracy sah sie wieder an. »Wie bitte?«
»Ach nichts, Liebes.« Lenie streckte die Hand aus und fuhr Tracy durchs Haar. »Es ist nur so … vielleicht solltest du nicht alles glauben, was dein Papa dir erzählt.«
»Warum nicht?«
»Die Leute sagen nicht immer unbedingt die Wahrheit.«
»Oh, das weiß ich. Aber er ist doch mein Papa.«
Lenie seufzte, doch dann hellte sich ihre Miene ein wenig auf. »Wusstest du, dass es Orte gibt, wo die Fische wie Leuchtstäbe glühen?«
»Das glaub ich nicht.«
»Oh doch. Ganz tief unten auf dem Grund des Ozeans. Ich habe sie selbst gesehen.«
»Wirklich?«
»Und manche von ihnen haben solche Zähne!« Lenie hielt die Hände ein Stück weit voneinander entfernt, weit genug, dass Tracys Schultern hindurchgepasst hätten. »Sie können nicht einmal ihr Maul ganz zumachen.«
»Na, wer erzählt jetzt Lügen?«, sagte Tracy.
Lenie legte eine Hand auf ihr Herz. »Ich schwöre es.«
»Du meinst, so wie Haie?«
»Nein. Anders.«
»Wow.« Lenie war sehr seltsam, aber nett. »Papa sagt, dass nicht mehr so viele Fische übrig sind.«
»Na ja, die, von denen ich spreche, leben in großer Tiefe.«
»Wow«, sagte Tracy noch einmal. Sie drehte sich wieder auf den Bauch zurück und blickte ins Wasser hinunter. »Vielleicht gibt es dort unten auch solche Fische.«
»Nein.«
»Es ist sehr tief. Man kann den Grund gar nicht sehen.«
»Glaub mir, Trace. Dort unten gibt es nur eine Menge Geröll, altes, fauliges Treibholz und leere Insektenpanzer.«
»Ja klar, und woher willst du das wissen?«
»Eigentlich …«, begann Lenie.
» Papa hat gesagt, ich soll weiter Ausschau halten.«
»Ich möchte wetten, dein Papa sagt eine Menge Dinge«, sagte Lenie mit merkwürdiger Stimme. »Nicht wahr?«
Tracy blickte sie wieder an. Lenie lächelte nicht mehr. Sie sah sehr ernst aus.
»Ich möchte wetten, er fasst dich auch manchmal an , oder?« Lenie flüsterte jetzt beinahe. »Wenn ihr beide euch nachts zusammenkuschelt .«
»Ja, sicher«, sagte Tracy. »Manchmal.«
»Und wahrscheinlich hat er gesagt, dass das in Ordnung ist, oder?«
Tracy war verwirrt. »Er redet nicht darüber. Er macht es einfach.«
»Es ist euer kleines Geheimnis, nicht wahr? Und du redest … du hast mit deiner Mama nie darüber gesprochen.«
»Ich …« Mami … »Er will nicht, dass ich darüber rede …« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Schon gut.« Lenie lächelte, und es war ein trauriges und zugleich freundliches Lächeln. »Du bist ein gutes Kind, weißt du das, Tracy? Du bist ein wirklich gutes Kind.«
»Sie ist die Beste«, sagte Tracys Papa, und Lenies Gesicht wurde so ausdruckslos wie eine Maske.
Er hatte seinen großen Tagesrucksack und Tracys kleinen gepackt. Tracy rappelte sich auf und nahm ihren Rucksack entgegen. Ihr Papa blickte Lenie an, und er wirkte ein wenig verwirrt, aber dann sagte er: »Wir wollen uns eine alte Fährte jenseits des Kamms ansehen. Vielleicht stoßen wir ja auf ein Reh oder einen Dachs. Es wird jedenfalls ein paar Stunden dauern. Sie können gerne mitkommen, wenn Sie wollen …«
Lenie schüttelte steif den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich
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