Maienfrost
als sie älter wurde, brauchte Carmen eben auch diesen typisch weiblichen Beistand. Dann kam sie herüber und schüttete mir ihr Herz aus.«
Während Almut tief aufseufzte, huschte ein Schatten über ihr knochiges Gesicht. »Wissen Sie«, fuhr sie bekümmert fort: »Ich habe Carmen geliebt, als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut. Sie war stets fröhlich und gut gelaunt. Es vergeht kein Tag, an dem ich sie nicht schmerzlich vermisse. Trotz all der seither vergangenen Zeit, fällt es mir schwer über die Vergangenheit zu reden. Ich habe mich einzig deshalb dazu durchgerungen, weil es mir darum geht, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Denn ich weiß Dinge, über die ich bisher mit niemandem gesprochen habe. In der Annahme, dass dieses Wissen für Sie von Bedeutung sein könnte, entschied ich mich dazu, mein Schweigen zu brechen und Ihnen zu sagen, was Carmen mir kurz vor ihrem Tod anvertraute. Lassen Sie mich dazu etwas ausholen: mit der Wende 1990 brach für uns alle hier eine andere Zeit an.« Ihren Bericht fortsetzend, wies Almut Miersch auf das gegenüberliegende Grundstück. »Bis dahin lenkten die Kelchs dort drüben äußerst erfolgreich die Geschicke eines kleinen Gärtnereibetriebes. Die Geschäfte liefen gut und das, obwohl es zu DDR-Zeiten gewiss kein Zuckerschlecken war, sich als Selbstständiger über Wasser zu halten. Aber da die beiden mit Leib und Seele an ihrer Gärtnerei hingen, fanden sie irgendwie immer einen Weg, um zu überleben. Ihr Laden wurde als Geheimadresse gehandelt. Selbst von den umliegenden Gemeinden kamen die Leute, um sich bei ihnen mit Pflanzen und Schnittblumen einzudecken. Die Kelchs waren dafür bekannt, ihre Kunden auch dann noch zufrieden stellen zu können, wenn in den staatlichen Gärtnereien und Blumenläden gähnende Leere herrschte. Natürlich war das unseren Parteifunktionären ein Dorn im Auge. Immer wieder versuchten sie das kleine Unternehmen zu verstaatlichen, doch ohne Erfolg. Aaron wusste sich stets mit Erfolg dagegen zur Wehr zu setzen. Und das wäre mit Sicherheit auch so weitergegangen, wäre da nicht, wie eingangs schon erwähnt, die Wende dazwischen gekommen. Denn kaum war der eiserne Vorhang gefallen, stand Pascal Austen vor Carmens Tür, um sein, wie er behauptete, rechtmäßiges Eigentum zurückzuverlangen.«
»Wie das denn?«, wunderte sich Henning. »Was hatte denn Pascal Austen mit den Kelchs zu tun?«
Einen Augenblick lang, schien Almut Miersch irritiert. Die Frage des Kommissars hatte sie aus dem Konzept gebracht. »Ich vergaß wohl, dass Sie das ja gar nicht wissen können«, entschuldigte sie sich. »Da werde ich Sie wohl erst einmal aufklären müssen.« Um das Versäumte nachzuholen, berichtete sie, dass die Austens schon seit Generationen hier ansässig seien: »Unter den männlichen Vorfahren dieser Linie, befanden sich auch einige handwerklich äußerst begabte Personen. Einer davon war der Baumeister Anton Austen, Pascals Großvater. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges errichtete dieser für sich und seine junge Familie jene Villa, die sie dort drüben sehen. Aufgrund seiner Vergangenheit siedelte er nach fünfundvierzig in den Westen über. Vorher jedoch vermachte er Aaron Kelch, dem Bruder seiner Frau, seinen Besitz. Dass er ihm sein Hab und Gut überschrieb, geschah jedoch nicht unbedingt aus freien Stücken. Morgenluft witternd, kam nach der Wende sein Enkel, um – wie er es bezeichnete – das Erbe seines Großvaters, für sich zu beanspruchen. Wie er das bewerkstelligt hat, ist mir heute noch schleierhaft. Auf alle Fälle verfügte er über Papiere, die eindeutig belegten, dass sein Anspruch auf den Grund und Boden der Kelchs einschließlich der darauf befindlichen Immobilien berechtigt war. Wie Sie sich vorstellen können, bekam Carmen einen fürchterlichen Schreck, als sie davon erfuhr. Die Aussicht, alles, wofür sie und ihr Vater ein Leben lang hart gearbeitet hatten, von heute auf morgen zu verlieren, war an sich schon ein Schock. Doch weitaus größeres Kopfzerbrechen bereitete ihr die Sorge um ihren Vater, der erst kurz vorher einen Schlaganfall erlitten hatte. Sein Arzt hatte ihr eindringlich eingeschärft, jegliche Aufregung zu vermeiden. Carmen musste davon ausgehen, dass ihr Vater diese Hiobsbotschaft nicht überleben würde. In ihrer Verzweiflung erbat sie sich von Pascal Austen einen Tag Bedenkzeit. Ihr war aufgefallen, wie begehrlich er sie angesehen hatte. Auf dieser Beobachtung basierend, reifte dann über Nacht
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