Maienfrost
Obwohl er versuchte neutral zu klingen, war eine gewisse Bitterkeit in seiner Stimme unüberhörbar. »Von mir erhoffe dir also nicht allzu viel. Wenn, dann solltest du dich an Doktor Beyer wenden. Er ist der neue Leiter der für diesen Fall gegründeten Soko. Offen gestanden ist mir schon lange kein derart selbstgefälliger und obendrein arroganter Schnösel mehr untergekommen. Der glaubt mit seinem Doktortitel die Weisheit in Tüten gekauft zu haben – ein typischer Schreibtischtäter und Paragraphenreiter eben. Ich schätze mal, dir werden solche Typen hinlänglich bekannt sein.«
Henning nickte. Er verstand, was sein junger Freund anzudeuten versuchte. Diese Erkenntnis verbot seinerseits jeglichen Versuch, mit Peers Vorgesetzten zu kooperieren. Schließlich befand er sich mit seinen, auf eigene Faust gestarteten Ermittlungen in einer Grauzone jenseits jeglicher Gesetzlichkeit. Nur zu gut kannte er die Gefahren, die sein eigenmächtiges Handeln in sich bargen. Er wusste genau, dass das Eis, auf dem er sich bewegte, dünn war. So hauchdünn, dass es jederzeit nachgeben und ihn zur Aufgabe zwingen konnte.
»Wie es aussieht, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als morgen auf eigene Faust nach Stralsund zu fahren, um mir Micha Kronstedt vorzuknöpfen.«
»Was dagegen, wenn ich mitkomme?«, erkundigte sich Leona. »Ich wollte schon immer mal dem Meereskundemuseum einen Besuch abstatten. So eine günstige Gelegenheit kommt so schnell bestimmt nicht wieder. Als kleines Dankeschön lade ich Sie anschließend zum Mittagessen ein.«
Das ließ sich Henning nicht zweimal sagen. Nur allzu bereitwillig nahm er Leonas Angebot an. Er fühlte sich geschmeichelt. Ein Blick auf Peer verriet ihm, dass dieser liebend gerne mit ihm getauscht hätte. Die Art und Weise, wie er sie die ganze Zeit über ansah, sie mit seinen Augen regelrecht verschlang, sprach schließlich Bände. Allerdings konnte Henning sich beim besten Willen nicht vorstellen, das Leona an Peers stämmiger, wenn auch gutmütiger Erscheinung Gefallen finden könnte. Andererseits kannte er die junge Frau, die seit ein paar Tagen unter seinem Dach weilte, zu wenig, um das einschätzen zu können. Als hätte Peer seine Gedanken erraten, errötete er. Um seine Verlegenheit zu überspielen, erhob er sich, um sich zu verabschieden. Nach einem Blick auf die Uhr zog es auch Leona vor, nach oben zu gehen. Die Seeluft und die Aufregung der letzten Stunden hatten dafür gesorgt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Lange, nachdem die beiden gegangen waren, saß Henning noch vor sich hingrübelnd am Küchentisch. Seine Gedanken kreisten um die tödlichen Injektionen. Irgendetwas schien er wieder einmal übersehen zu haben. Aber es wollte ihm nicht einfallen. Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte ihm an, dass unbemerkt von ihm schon seit mehreren Minuten der neue Tag begonnen hatte. Angesichts der späten Stunde beschloss er gleichfalls schlafen zu gehen.
14
Das Klingeln seines Weckers riss ihn unsanft aus dem Schlaf. Benommen stellte er ihn ab. Sein zerwühltes Bett zeugte davon, dass er schlecht geschlafen hatte. Doch dafür war ihm im Laufe der Nacht wieder eingefallen, woran er sich am Abend zuvor erfolglos zu erinnern versuchte. Es war ein an sich unbedeutendes Detail. Etwas, dem er im ersten Moment keinerlei Bedeutung beigemessen hatte. Doch nun im Zusammenhang mit den Morden betrachtet, erschien ihm die Tatsache, dass Pascal Austens Vater Apotheker war, keineswegs mehr als nebensächlich oder gar belanglos. Obwohl er nicht daran glaubte, dass sich diese Spur als aufschlussreich erweisen könnte, wollte er es nicht versäumen ihr nachzugehen. Dass Wigald Austen in Hamburg wohnte, kam ihm gelegen. Schließlich hatte er selbst lange Jahre in der Hansestadt seinen Dienst versehen. Unwillkürlich musste er an Anouschka, seine leider viel zu früh verstorbene Frau denken, die er auf einem der zahlreichen Hafenfeste kennen gelernt hatte. Während seine Gedanken wehmütig abschweiften, entrang sich seiner Brust ein tiefer Seufzer. Obwohl seine Frau seit nunmehr schon zwanzig Jahren unter der Erde lag, schmerzte die Erinnerung an sie noch immer. Schließlich war Anouschka seine erste und einzige große Liebe. Deshalb konnte er sich auch gut vorstellen, wie es in Carmen ausgesehen haben mochte, wie tief verletzt und verzweifelt sie gewesen sein musste. Mit einer energischen Handbewegung versuchte er die Gedanken an die Vergangenheit zu verscheuchen. Er
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