Maienfrost
lebte im Hier und Heute. Und da gab es schließlich Wichtigeres, als sentimentalen Erinnerungen nachzuhängen. Gestern war vergangen und vorbei. Er musste endlich lernen, diese Tatsache zu akzeptieren.
Um auf andere Gedanken zu kommen, griff er sich sein Notizbuch, um darin die Nummer von Erich Kröger, einem Freund und Kollegen aus seiner Hamburger Zeit, nachzuschlagen. Trotz all der seither vergangenen Jahre zeigte Erich sich aufrichtig erfreut, von Henning zu hören. Die nächsten Minuten verbrachten die beiden Männer damit, alte Erinnerungen aufzufrischen. Im Laufe des weiteren Gesprächs kam Henning dann auf den Grund seines Anrufs zu sprechen. Nachdem er Erich einen Überblick über die bisherigen Geschehnisse geliefert hatte, bat er ihn, Erkundigungen über die Austens einzuholen. »Jedes noch so unbedeutende Detail könnte wichtig sein«, schärfte ihm Henning ein. Sein Kollege versprach sich umzuhören.
Als der Kommissar das Telefonat beendet hatte, ging er, vom Duft frisch gebrühten Kaffees angelockt, nach unten. Schon von weitem hörte er Leona in der Küche mit Geschirr klappern. Als Henning in der Tür erschien, hatte sie bereits den Tisch gedeckt und den Toaster bestückt. Auch der Kaffee stand schon bereit und wartete nur noch darauf, ausgeschenkt zu werden. Angenehm überrascht ließ Henning sich am Küchentisch nieder. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal derart verwöhnt worden war. Leona, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, sah aus wie das blühende Leben. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid auf dessen dünnen Trägern sich rötlich schimmernd die üppige Fülle ihres gelockten Haars ergoss. Ein durchs Fenster hereinfallender Sonnenstrahl verlieh ihm einen kupferfarbenen Glanz. Hingerissen von ihrem Anblick, wünschte sich Henning die Zeit zurückdrehen zu können. Gleichzeitig war er viel zu sehr Realist, um zu wissen, dass die junge Frau sich auch dann nicht in ihn verlieben würde, wenn er zehn Jahre jünger wäre. Aber davon zu träumen, dachte er schmunzelnd, war schließlich nicht verboten. Gerade so, als hätte Leona seine Gedanken erraten, trafen sich ihre Blicke. Der Kommissar fühlte sich ertappt und wurde rot. Er konnte sich nicht darauf besinnen, wann ihm so etwas zuletzt widerfahren war. Um die für ihn peinliche Situation zu entschärfen, erkundigte er sich nach den heutigen Plänen seines Gastes.
Nachdem Leona in diesem Zusammenhang die Einladung zum Mittagessen erneuert hatte, vereinbarten sie, sich gegen zwölf am Meereskundemuseum zu treffen, um gemeinsam nach einer geeigneten Gaststätte Ausschau zu halten.
Schon wenig später befanden sie sich auf dem Weg nach Stralsund. Leona, um etwas für ihre Bildung zu tun und der Kommissar, um Micha Kronstedt aufzusuchen. Wegen der geschlossenen Bahnschranken endete ihre Fahrt nahe Baabe erstmals im Stau. In eine graue Nebelwolke getaucht, kam ihnen der ›Rasende Roland‹ entgegen. Obwohl schon kurz danach die Durchfahrt wieder freigegeben wurde, kamen sie nur zögerlich voran. Und daran änderte sich auch nichts, bis sie das Stadtgebiet von Stralsund erreicht und Henning seinen Gast am Meereskundemuseum abgesetzt hatte. Als er mit seinem Wagen hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war, reihte sich Leona ergeben in die mehrere Meter lange Schlange ein, die sich trotz des sonnigen Wetters vor dem Museumseingang gebildet hatte.
Der Kommissar indes hielt ein paar Querstraßen weiter Ausschau nach der nahe dem Katharinenkloster gelegenen Pension, in der er, laut der von Peer erhaltenen Auskünfte, Micha Kronstedt anzutreffen hoffte.
Nachdem Henning die mit Blick auf den Knieperteich gelegene Herberge gesichtet hatte, rangierte er seinen Polo in eine der wenigen noch freien Parklücken auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein. Die neu erbaute Pension, die mit ihrem Namen an Störtebecker, den ›Wolf der Meere‹ erinnerte, machte einen gediegenen Eindruck. Am Eingang kam Henning ein großer, breitschultriger Mann entgegen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre mit ihm zusammengestoßen. Als der Kommissar sich von seinem Schreck erholt hatte, betrat er die, im Inneren nicht minder gepflegte Herberge, deren Boden bernsteinfarbene Marmorfliesen bedeckten. An den in sonnigem Gelb gehaltenen Wänden hingen effektvoll in Szene gesetzte Landschaftsaufnahmen, welche die Insel im Wandel der Jahreszeiten darstellten. Hinter einer gemütlichen Sitzgruppe, die aus einer hellen Ledercouch und mehreren dazu
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