Maigret - 26 - Maigret regt sich auf
die alte Jeanne gesagt. »Sie hat mehr Geld, als sie je ausgeben kann, keine Kinder, keine Erben, denn ihre Neffen hat sie schon vor Jahren vor die Tür gesetzt.«
Züge wie diese, zu denen die Eindrücke vom gestrigen Abend kamen, unbedeutende Einzelheiten, verwoben sich für Maigret zu einem dichten, lebensvollen Bild von der Persönlichkeit seiner Wirtin.
Sie mußte einmal schön gewesen sein, Raymonde hatte das auch gesagt. Und das stimmte. Das merkte man trotz der fünfzig Jahre, ihrer Ungepflegtheit, der fettigen Haare und der grauen Haut.
Eine Frau, die schön gewesen und intelligent war, die sich plötzlich hatte gehen lassen, die trank, die ungesellig in ihrer Ecke lebte und jammerte und soff, bis sie ganze Tage im Bett bleiben mußte.
»Sie wird sich nie entschließen können, Orsenne zu verlassen.«
Nun, wenn alle Personen in seinen Augen die gleiche menschliche Greifbarkeit angenommen hätten, wenn er sie ›erspüren‹ könnte, wie er die Wirtin vom ›Ange‹ erspürte, stünde das Geheimnis bald vor seiner Aufklärung.
Bislang war es lediglich Bernadette Amorelle, die er bald zu begreifen hoffte.
»Der alte verstorbene Monsieur Amorelle war ganz und gar nicht ein Mann im Stile seiner Schwiegersöhne. Er schlug eher in die Art von Monsieur Campois. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Er war hart, aber gerecht. Manchmal ging er sogar zur Schleuse und unterhielt sich mit seinen Schiffern; er zögerte nicht einmal, mit ihnen einen zu trinken.«
Die erste Generation, das war im Grunde die aufsteigende Generation, mit dem großen, soliden Haus ohne übertriebenen Prunk. Dann kam die nächste Generation, die beiden Töchter, die die Gebrüder Malik geheiratet hatten. Es folgten die Luxusautos, die moderne Villa, die Anlegebrücke.
»Sagen Sie, Raymonde, haben Sie Monita gut gekannt?«
»Natürlich habe ich sie gekannt. Ich habe sie noch als kleines Mädchen gesehen, denn ich bin jetzt sieben Jahre im ›Ange‹, und vor sieben Jahren war sie kaum älter als zehn. Ein richtiger Junge … Sie ist immer ihrer Gouvernante davongelaufen, und man mußte sie überall suchen. Manchmal wurde die ganze Dienerschaft losgeschickt und mußte an der Seine entlang nach Monita rufen. Meistens machte sie ihre Streiche zusammen mit ihrem Cousin Georges-Henry.«
Auch den hatte Maigret nicht zu Gesicht bekommen. Sie beschrieb ihn dem Kommissar.
»Der war nicht so geschniegelt und gebügelt wie sein Bruder, o nein! Fast immer in kurzen Hosen, und die waren nicht sehr sauber, mit nackten Beinen und struppigen Haaren. Und eine Angst hatte der vor seinem Vater!«
»Waren Monita und Georges-Henry ineinander verliebt?«
»Ich weiß nicht, ob Monita verliebt war. Eine Frau weiß ihre Gefühle besser zu verbergen. Aber er war es bestimmt.«
Es war behaglich in dieser Küche, in die nur schräg ein Sonnenstrahl hineinfiel. Maigret rauchte seine Pfeife, hatte die Ellenbogen auf den Tisch aus grobem, gewachstem Holz gestützt und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee.
»Haben Sie ihn seit dem Tod seiner Kusine gesehen?«
»Ich habe ihn bei der Beerdigung gesehen. Er war sehr blaß und hatte rote Augen. Mitten in der Messe hat er zu schluchzen begonnen. Auf dem Friedhof, als alle an der offenen Gruft vorbeigingen, hat er plötzlich einen Armvoll Blumen genommen und auf den Sarg geworfen.«
»Und dann?«
»Ich glaube, sie halten ihn zu Hause fest.«
Sie schaute Maigret neugierig an. Sie hatte gehört, daß er ein bedeutender Polizist war, daß er Hunderte von Verbrechern festgenommen hatte, daß er die kompliziertesten Fälle zu lösen vermochte. Und dieser Mann saß hier in ihrer Küche, in Hemdsärmeln mit Pfeife, unterhielt sich vertraulich mit ihr und stellte harmlose Fragen.
Was konnte er von ihr erwarten? Es fehlte nicht viel, und sie hätte ein ganz kleines bißchen Mitleid mit ihm gehabt. Vermutlich wurde er langsam alt, denn man hatte ihn ja pensioniert.
»Nun muß ich aber abwaschen und dann die Fliesen scheuern.«
Er ging nicht weg, sein Gesicht war immer noch friedlich und verriet auch keine Nachdenklichkeit.
»Summa summarum«, murmelte er plötzlich, »Monita ist tot, und Georges-Henry ist verschwunden.«
Sie hob ruckartig den Kopf.
»Sind Sie sicher, daß er verschwunden ist?«
Und er stand auf, änderte seine Haltung, straffte sich, schien auf einmal entschlossen.
»Hören Sie mir einen Augenblick zu, Raymonde. Warten Sie. Geben Sie mir einen Bleistift und ein Stück Papier.«
Sie riß
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