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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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in dieser Hinsicht«, beruhigte er mich.
    Zwei Tage später bestieg ich den Zug nach Paris.
     
    Meine Frau wird es mir diesmal nicht übelnehmen, wenn ich wieder auf Simenon und auf das Bild, das er von mir gezeichnet hat, zu sprechen komme, denn jetzt geht es um einen Punkt, den er in einem seiner Bücher, einem der neuesten, aufgegriffen hat und der mir besonders nahegeht.
    Es ist sogar einer der Punkte, über die ich mich am meisten geärgert habe – und ich spreche jetzt nicht von belanglosen Kleiderfragen oder anderen Nebensächlichkeiten, wie ich es schon einmal aus Spaß getan habe.
    Ich wäre nicht meines Vaters Sohn, wenn ich nicht auf alles, was mit meinem Beruf, meiner Karriere zusammenhängt, recht empfindlich reagierte, und genau darum geht es hier:
    Ich hatte manchmal den (unangenehmen) Eindruck gehabt, Simenon versuche mich bei den Lesern gewissermaßen dafür zu entschuldigen, daß ich zur Polizei gegangen bin. Und sicher glauben manche, daß ich diesen Beruf nur als Notlösung gewählt habe.
    Es ist ohne Zweifel richtig: Ich hatte das Studium der Medizin begonnen, und zwar hatte ich mich aus freien Stücken dazu entschlossen, ohne von mehr oder weniger ehrgeizigen Eltern gedrängt worden zu sein, wie das häufig der Fall ist.
    Jahrelang hatte ich nicht mehr daran gedacht, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich zu fragen, was jenen Entschluß veranlaßt hatte, hätten nicht ein paar gedruckte Sätze über meine Berufung dazu geführt, daß diese Frage mich immer stärker beschäftigte.
    Ich habe mit keinem Menschen darüber gesprochen, nicht einmal mit meiner Frau. Heute muß ich meine Hemmungen überwinden und die Dinge klarstellen oder es zumindest versuchen.
    Simenon hat also in einem seiner Bücher vom ›Schicksalsflicker‹ gesprochen. Den Ausdruck hat nicht er erfunden, er ist von mir, ich muß ihn einmal im Gespräch mit ihm verwendet haben.
    Und ich frage mich, ob nicht alles mit Gadelle begonnen hat, dessen Tragödie mich offenbar tiefer beeindruckt hatte, als ich damals wissen konnte.
    Gerade weil er Arzt war, weil er versagt hatte, ist der medizinische Beruf für mich etwas außerordentlich Erhabenes, fast Priesterliches geworden.
    Während Jahren muß ich das Drama dieses Mannes, seinen Kampf mit einem Schicksal, dem er nicht gewachsen war, unbewußt zu begreifen versucht haben.
    Und ich dachte wieder an das Verhalten meines Vaters, ich fragte mich, ob mein Vater zur gleichen Erkenntnis gekommen war wie ich, ob er Gadelle deshalb seine Chance hatte ausspielen lassen, wie hoch auch der Preis war, den er dafür bezahlte.
    Von Gadelle sind meine Gedanken dann wie selbstverständlich weitergewandert zu den vielen anderen, die ich gekannt hatte, einfachen Menschen zumeist, die scheinbar problemlos lebten und sich doch früher oder später mit ihrem Schicksal hatten auseinandersetzen müssen.
    Man vergesse nicht, daß ich hier nicht die Gedanken eines ausgewachsenen Mannes wiederzugeben versuche, sondern Fragen, die einem Schuljungen, einem Halbwüchsigen durch den Kopf gegangen sind.
    Der Tod meiner Mutter erschien mir als eine so sinnlose, so nutzlose Tragödie!
    Und alle anderen menschlichen Dramen, von denen ich hörte, all das Scheitern und Versagen erfüllten mich mit zorniger Verzweiflung.
    Konnte denn niemand etwas dagegen tun? Mußte man sich damit abfinden, daß es nirgends einen Menschen gab, der klüger oder erfahrener gewesen wäre als die anderen, so etwas wie ein Hausarzt, dachte ich, ein Gadelle, der nicht versagt hätte, der fähig gewesen wäre, seinem Mitmenschen sanft, aber bestimmt zu sagen:
    »Du bist auf dem falschen Weg. Wenn du so weitermachst, gibt es unweigerlich eine Katastrophe. Dein Platz ist hier, nicht dort!«
    Das war es, glaube ich: Ich hatte das dumpfe Gefühl, zu viele Menschen seien nicht an ihrem Platz, sie bemühten sich, eine Rolle zu spielen, der sie nicht gewachsen waren, und deshalb sei die Partie für sie von vornherein verloren.
    Man soll aber ja nicht denken, ich selber hätte jemals eine solche Gottvater-Figur werden wollen.
    Nachdem ich Gadelle und dann auch meines Vaters Einstellung zu ihm zu begreifen gesucht hatte, blickte ich immer weiter um mich, stellte mir immer dieselben Fragen.
    Ein Beispiel, das den Leser amüsieren wird: In einem bestimmten Schuljahr waren wir achtundfünfzig in meiner Klasse, achtundfünfzig Schüler aus den verschiedensten Milieus, mit verschiedensten Eigenschaften, Ambitionen, Charakterfehlern. Ich hatte mir

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