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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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und doch nichts von den Dingen weiß, die man heute als wesentlich betrachtet. Ich habe mich schon oft darüber gewundert, und manchmal ist mir, als stände ich zwischen zwei einander völlig fremden Welten.
    Es ist noch nicht lange her, daß wir darüber gesprochen haben, Simenon und ich, in meiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir. Ich glaube fast, es war am Vorabend seiner Reise nach den Vereinigten Staaten. Er war unvermittelt vor der vergrößerten Fotografie meines Vaters stehengeblieben, obgleich er sie seit Jahren an der Eßzimmerwand hatte hängen sehen.
    Während er sie sehr aufmerksam betrachtete, warf er von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf mich, als suchte er nach Vergleichen. Es schien ihn nachdenklich zu stimmen.
    »Wissen Sie, Maigret«, bemerkte er endlich, »im Grunde sind Sie genau im idealen Milieu, im idealen Zeitpunkt der Entwicklung einer Familie geboren, um ein ›großer Kommis‹, wie man früher sagte, oder – wenn Ihnen das lieber ist – ein erstklassiger Beamter zu werden.«
    Die Worte haben mir Eindruck gemacht, denn dasselbe hatte ich mir auch schon überlegt, wenn auch nicht auf diese präzise, geschweige denn persönliche Art; es hatte mich immer gewundert, daß so viele meiner Kollegen aus Bauernfamilien stammten, die den direkten Kontakt mit der Erde erst vor kurzer Zeit verloren hatten.
    Etwas wie Wehmut, wie Neid klang in Simenons Stimme mit, als er fortfuhr:
    »Ich bin Ihnen um eine Generation voraus. Ich muß auf meinen Großvater zurückgreifen, um das Gegenstück zu Ihrem Vater zu finden. Schon mein Vater befand sich auf der Beamtenstufe.«
    Meine Frau betrachtete ihn aufmerksam und sichtlich bemüht, ihn zu verstehen. In leichterem Ton sprach er weiter:
    »Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, ich hätte durch die kleine Tür, von unten her in die Welt der freien Berufe eindringen müssen. Ich hätte mich abrackern müssen, um einmal Bezirksarzt oder Anwalt oder Ingenieur zu werden. Oder aber …«
    »Aber?«
    »Ein Verbitterter, ein Rebell werden. Wie die meisten Menschen, und das muß so sein, sonst gäbe es ja Ärzte und Anwälte im Überfluß. Ich glaube, ich gehöre zu der Schicht, die die höchste Anzahl Versager hervorbringt.«
    Ich weiß nicht, warum dieses Gespräch mir plötzlich wieder einfällt. Wahrscheinlich weil ich an meine Anfänge zurückdenke und meine seelische Verfassung in jenen Jahren zu analysieren versuche.
    Ich stand allein auf der Welt. Ich war soeben in Paris gelandet, wo ich mich überhaupt nicht auskannte und wo der Reichtum sich viel augenfälliger breitmachte als in der heutigen Zeit.
    Zweierlei gab mir zu denken: auf der einen Seite dieser Reichtum, auf der anderen die Armut; und ich gehörte zu der anderen Seite.
    Eine ganze Welt lebte vor den Augen der breiten Masse ein Leben des ausgeklügelten Müßiggangs, und die Zeitungen hielten ihre Leser über das Tun und Lassen dieser Leute, die sich ausschließlich mit ihrem Privatvergnügen und ihren Eitelkeiten beschäftigten, sorgfältig auf dem laufenden.
    Trotzdem bin ich keinen Augenblick versucht gewesen, mich dagegen aufzulehnen. Ich beneidete diese Leute nicht. Ich träumte nicht davon, eines Tages so zu sein wie sie. Ich verglich mein Schicksal nicht mit dem ihren.
    Für mich gehörten sie einer Welt an, die sich genausogut auf einem anderen Planeten befinden konnte.
    Ich weiß noch, was für einen unersättlichen Appetit ich damals hatte; er war schon in meiner Kindheit legendär gewesen. Meine Tante in Nantes erzählte oft, wie sie mich nach der Schule vier Pfund Brot aufs Mal hatte verschlingen sehen, was mich nicht gehindert hätte, zwei Stunden später ein ausgiebiges Abendessen zu verzehren.
    Ich verdiente sehr wenig, und meine Hauptsorge galt diesem Hungergefühl in mir, das gestillt werden wollte. Den höchsten Luxus sah ich nicht auf den berühmten Kaffeehausterrassen längs der Boulevards, auch nicht in den Schaufenstern der Rue de la Paix, sondern ganz prosaisch in den Auslagen der Metzgereien.
    Auf meiner täglichen Route hatte ich eine Anzahl faszinierender Wurstwarenläden entdeckt, und in all den Monaten, da ich in meiner Uniform durch Paris radelte, teilte ich meine Zeit immer so ein, daß mir einige Minuten verblieben, um ein Stück Wurst oder eine Scheibe Pastete zu kaufen und auf dem Gehsteig zu verschlingen, mit einem Brötchen aus der Bäckerei von nebenan.
    Nachdem ich meinen Magen beschwichtigt hatte, fühlte ich mich glücklich und voll

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