Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
wohlwollende Schweigen meines Vaters gewohnt gewesen war.
Ich hatte ihm fast meine ganze Lebensgeschichte erzählt, als wir den Quai des Orfèvres am anderen Ende des Pont Saint-Michel erreichten.
Vor einem halbgeöffneten mächtigen Tor blieb er stehen.
»Würden Sie hier einen Augenblick warten?« sagte er. »Es dauert nur ein paar Minuten.«
Vor dem Portal stand ein uniformierter Polizist Wache. Nachdem ich eine Weile lang auf und ab geschlendert war, fragte ich ihn:
»Ist das hier nicht der Justizpalast?«
»Dieser Eingang führt zu den Büros der ›Sûreté‹.«
Mein Zimmernachbar hieß Jacquemain. Er war tatsächlich Junggeselle, das erfuhr ich an jenem Abend, während wir die Seine entlangschlenderten und dabei mehrmals die gleichen Brücken überquerten, fast immer mit dem Justizpalast vor Augen, der sich als dunkle Masse vom Hintergrund abhob.
Er war Polizeiinspektor und erzählte von seinem Beruf, wie mein Vater von dem seinen erzählt hätte, in knappen Worten und mit dem gleichen untergründigen Stolz.
Er ist drei Jahre später umgekommen, noch ehe ich selber in jene für mich so sagenhaft gewordenen Büros am Quai des Orfèvres eingezogen war. Es geschah in der Nähe der Porte d’Italie, im Verlauf einer Schlägerei. Eine Kugel, die überhaupt nicht ihm gegolten hatte, traf ihn mitten ins Herz.
Seine Fotografie hängt heute noch neben anderen in einem dieser schwarzen Rahmen unter der Inschrift: »Im Dienst ums Leben gekommen«.
Damals hat er wenig gesprochen. Er hat mir vor allem zugehört. Was mich nicht hinderte, ihn gegen elf Uhr nachts mit einer vor Ungeduld zitternden Stimme zu fragen:
»Und Sie glauben wirklich, daß es möglich ist?«
»Morgen abend kann ich Ihnen antworten.«
Selbstverständlich ging es nicht darum, daß ich geradewegs bei der ›Sûreté‹ landete. Das Zeitalter der Diplome war noch nicht angebrochen. Jeder mußte ganz unten beginnen.
Ich hatte nur einen Ehrgeiz: In irgendeinem Pariser Polizeibüro irgendeinen Posten zu versehen und auf eigene Faust eine Seite unserer Welt zu entdecken, in die Inspektor Jacquemain mir nur einen flüchtigen Einblick gewährt hatte.
Beim Abschied im Treppenhaus des Hotels, das seither abgebrochen worden ist, fragte er mich:
»Wäre es Ihnen sehr peinlich, die Uniform zu tragen?«
Es hat mir einen kleinen Schock versetzt, ich gebe es zu. Mein kurzes Zögern entging ihm nicht und hat ihm wohl auch nicht besonders gefallen.
»Nein …«, antwortete ich leise.
Und ich habe sie getragen, nicht lange, sieben oder acht Monate.
Da ich lange Beine hatte, sehr mager und auch sehr flink war, so seltsam dies heute klingen mag, haben sie mir ein Fahrrad gegeben, und damit ich mich in Paris, wo ich mich ständig verirrte, zurechtfinden lernte, mußte ich zu den verschiedenen Ämtern fahren und Briefe abgeben.
Hat Simenon das auch erzählt? Ich erinnere mich nicht. Monatelang habe ich mich also auf meinem Rad durch den Verkehr geschlängelt und Todesängste ausgestanden, wenn die Droschken und die noch von Pferden gezogenen Omnibusse den Montmartre herunterdonnerten.
Die Beamten trugen noch den Gehrock mit Zylinder, von einem bestimmten Dienstgrad an auch den Cutaway.
Die meisten Polizisten waren Männer mittleren Alters mit rötlich gefärbten Nasen, die man mit den Kutschern an der Theke stehen und ein Gläschen heben sehen konnte und die von den Chansonniers mit gutmütigem Spott bedacht wurden.
Ich war noch ledig. Die Uniform hinderte mich, jungen Mädchen den Hof zu machen. Ich beschloß, daß mein wahres Leben erst an dem Tag beginnen würde, da ich das Haus am Quai des Orfèvres nicht mehr nur als Überbringer von Dienstmeldungen, sondern als Inspektor betreten würde, und zwar über die Haupttreppe.
Als ich meinem Zimmernachbarn von meinem Traum erzählte, lächelte er nicht, er schaute mich nur nachdenklich an und murmelte:
»Warum nicht?«
Ich wußte nicht, daß ich so bald schon zu seinem Begräbnis gehen würde. Meine Prognosen über die Zukunft meiner Mitmenschen ließen zu wünschen übrig.
4
Ein Kapitel, in welchem ich dem Amt für Straßen- und Brückenbau zum Trotz und vor seiner Nase die Kekse von Anselme und Géraldine aufesse
Haben mein Vater, mein Großvater sich wohl jemals überlegt, ob sie etwas anderes hätten sein können als das, was sie waren? Hatten sie nach etwas anderem gestrebt? Beneideten sie andere Menschen um ihr Schicksal?
Es ist merkwürdig, wie man so lange mit Menschen zusammenleben kann
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