Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
Selbstvertrauen. Ich tat meine Arbeit gewissenhaft. Jede Aufgabe nahm ich ernst, mochte sie noch so unbedeutend sein. Und das Wort Überstunden war mir fremd. Ich empfand es als selbstverständlich, daß meine ganze Zeit der Polizei gehörte, und als durchaus natürlich, daß man mich vierzehn oder fünfzehn Stunden ununterbrochen in Trab hielt.
Ich sage das nicht, um mich besonderer Verdienste zu rühmen, sondern weil es im Gegenteil, soweit ich mich erinnere, die damals allgemein übliche Einstellung zur Arbeit war.
Die wenigsten Stadtpolizisten brachten mehr als eine Elementarschulbildung als Rüstzeug mit. Dank Inspektor Jacquemain wußte man an höherer Stelle von meinem angefangenen Hochschulstudium (aber ich selber wußte noch nicht, wer es wußte, ja nicht einmal, daß man es wußte).
Zu meiner größten Überraschung wurde ich nach einigen Monaten an einen Posten versetzt, von dem ich nie zu träumen gewagt hätte. Man teilte mich dem Kommissar des Quartiers Saint-Georges als Sekretär zu.
Für den Sekretär gab es in jenen Jahren allerdings eine wenig rühmliche Bezeichnung. Man nannte ihn den »Hund des Kommissars«.
Sie nahmen mir das Fahrrad, das Käppi und die Uniform weg. Sie beraubten mich auch der Möglichkeit, auf meinen Botenfahrten durch Paris vor einem Wurstwarenladen anzuhalten.
Daß ich Zivil trug, habe ich ganz besonders geschätzt an dem Tag, da ich auf dem Boulevard Saint-Michel meinen Namen rufen hörte.
Ein langer Jüngling in weißem Kittel lief mir nach.
»Jubert!« entfuhr es mir.
»Maigret!«
»Was tust du hier?«
»Und du?«
»Hör zu, ich kann nicht lange hier stehenbleiben. Hol mich doch heute abend um sieben vor der Apotheke ab!«
Jubert, Félix Jubert, war mit mir an der medizinischen Fakultät in Nantes gewesen. Ich wußte, er hatte sein Studium etwa um die gleiche Zeit abgebrochen wie ich, aber ich glaube aus anderen Gründen. Er war nicht gerade dumm, aber etwas begriffsstutzig, und ich erinnere mich, daß man von ihm sagte:
»Er studiert, bis ihm Pusteln aus dem Kopf wachsen, aber am nächsten Morgen weiß er nicht mehr als vorher.«
Er war lang aufgeschossen und knochig, hatte eine große Nase, eher grobe Züge, rotes Haar, und sein Gesicht habe ich tatsächlich immer mit Pusteln übersät gesehen, nicht etwa nur mit jenen kleinen Akne-Pickeln, die junge Leute zur Verzweiflung bringen, nein, es waren dicke rote oder violette Pusteln, die er ständig mit Salben sowie allen Arten von Medizinalpuder überdeckte.
Am Abend habe ich vor der Apotheke, wo er seit einigen Wochen arbeitete, auf ihn gewartet. Er hatte keine Verwandten in Paris. Er wohnte in der Gegend von Cherche-Midi bei Leuten, die zwei, drei Pensionäre aufnahmen.
»Und du, was treibst du?«
»Ich arbeite bei der Polizei.«
Ich sehe heute noch, wie seine violetten Augen, unschuldig wie die eines jungen Mädchens, ihre Ungläubigkeit zu verbergen suchten. Seine Stimme klang ganz komisch, als er wiederholte:
»Bei der Polizei?«
Er musterte meinen Anzug, warf unwillkürlich einen Blick auf den Schutzmann, der an der Straßenecke seinen Dienst versah, wie um Vergleiche zu ziehen.
»Ich bin Sekretär eines Kommissars.«
»Ach so! Jetzt verstehe ich!«
Tat ich es aus falscher Scham? Lag es nicht eher an meiner Unfähigkeit, mich verständlich zu machen, und an seiner Unfähigkeit, mich zu verstehen? Jedenfalls verschwieg ich ihm, daß ich noch vor drei Wochen die Uniform getragen hatte und von einem Posten bei der ›Sûreté‹ träumte.
Ein Sekretär, das war in seinen Augen wie in den Augen vieler Leute etwas sehr Gutes, sehr Achtbares, ein sauberes Metier, in einem Büro, von Büchern umgeben, den Federhalter in der Hand.
»Hast du in Paris viele Freunde?«
Außer Inspektor Jacquemain kannte ich sozusagen keinen Menschen, denn im Kommissariat war ich noch ein Neuling, den man erst eine Zeitlang beobachtete, ehe man sich ihm anvertraute.
»Auch keine kleine Freundin? Was machst du denn in all deiner freien Zeit?«
Erstens hatte ich nicht viel freie Zeit. Zweitens bildete ich mich weiter, denn um mein Ziel schneller zu erreichen, hatte ich beschlossen, die eben erst eingeführten Prüfungen abzulegen.
An jenem Abend sind wir zusammen essen gegangen. Beim Nachtisch teilte er mir verheißungsvoll mit:
»Ich muß dich vorstellen.«
»Wem denn?«
»Sehr netten Leuten. Freunden von mir. Du wirst sehen.«
Damals ging er nicht näher darauf ein. Und ich weiß nicht mehr, weshalb wir uns danach
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