Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
Formalitäten
Der Rest des Tages verlief folgendermaßen: Zunächst trank Maigret zwei Bier mit seinem Taxifahrer, der sich seinerseits mit einem Glas gespritzten Weißweins begnügte. Es war die Stunde, da es kühl zu werden begann, und Maigret wollte gerade in den wartenden Wagen einsteigen, als er sich besann, dass er sich zu der Pension fahren lassen könnte, in der Maria van Aerts ein Jahr lang gewohnt hatte. Er hatte dort nichts Wichtiges zu erledigen. Er gab vielmehr seiner Gewohnheit nach, bei den Leuten herumzuschnüffeln, um sie besser zu verstehen.
Die Wände waren von cremefarbenem Weiß. Alles war cremefarben, süßlich, wie in einer Konditorei, und die Besitzerin mit dem überstark gepuderten Gesicht wirkte wie ein Kuchen mit zu viel Zuckerguss.
»Was für eine reizende Person war sie, Monsieur Maigret! Und was für eine wunderbare Lebensgefährtin muss sie für ihren Mann gewesen sein! Sie sehnte sich so sehr danach zu heiraten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie auf eine Heirat aus war?«
»Träumen nicht alle jungen Mädchen von einem Ehemann?«
»Sie war doch ungefähr achtundvierzig, als sie bei Ihnen wohnte, wenn ich mich nicht irre?«
»In ihrem Wesen war sie aber unglaublich jung geblieben! Ein Nichts amüsierte sie. Wenn ich Ihnen erzählen würde, dass es ihr großen Spaß machte, den anderen Pensionsgästen Streiche zu spielen! Es gibt in der Nähe der Madeleine ein Geschäft, das mir nie zuvor aufgefallen war, ehe ich es durch sie kennenlernte. Man kann dort alle möglichen Scherzartikel kaufen: künstliche Mäuse, Löffel, die im Kaffee schmelzen, Geräte, die man unter das Tischtuch schiebt und die dann heimlich den Teller eines Tischnachbarn emporheben, Gläser, aus denen man nicht trinken kann, und was sonst noch. Kurz und gut – in diesem Geschäft war sie eine der besten Kundinnen. Dabei eine sehr gebildete Dame, die alle Museen in Europa kannte und ganze Tage im Louvre zubrachte.«
»Hat sie Ihnen ihren künftigen Gatten einmal vorgestellt?«
»Nein. Sie spielte gern die Geheimniskrämerin. Vielleicht scheute sie sich, ihn hierher mitzubringen, weil ihm da sicher ein paar andere Damen schöne Augen gemacht hätten. Dem Vernehmen nach ist er ein außerordentlich stattlicher Mann mit dem Aussehen eines Diplomaten.«
»Aha!«
»Er sei Zahnarzt, hat sie mir gesagt, behandle aber nur ganz wenige Patienten nach Vereinbarung. Er stamme aus einer sehr reichen Familie.«
»Und Mademoiselle van Aerts?«
»Ihr Vater hat ihr ein hübsches Vermögen hinterlassen.«
»Sagen Sie: War sie geizig?«
»Hat man Ihnen das erzählt? Ganz sicher war sie äußerst sparsam. Wenn sie zum Beispiel in der Stadt Besorgungen zu machen hatte, wartete sie, bis eine andere Dame aus der Pension den gleichen Weg hatte, damit sie sich die Taxikosten teilen konnten. Jede Woche hatte sie an ihrer Rechnung etwas zu bemängeln.«
»Wissen Sie, wie sie Monsieur Serre kennengelernt hat?«
»Ich glaube nicht, dass es durch die Annonce geschah.«
»Sie hatte also eine Zeitungsanzeige aufgegeben?«
»Nur so zum Spaß. Sie hielt nichts davon. Wohl mehr, um sich zu amüsieren. Ich kann mich nicht an den genauen Text erinnern, aber sie hatte etwa so formuliert, dass eine Dame aus sehr guter Familie, Ausländerin, vermögend, einen Herrn aus entsprechenden Kreisen zwecks späterer Heirat suche. Sie hat damals Hunderte von Briefen bekommen. Sie verabredete sich mit den Absendern dann im Louvre, einmal in diesem Saal, einmal in jenem, und die Herren mussten ein bestimmtes Buch in der Hand halten oder eine Blume im Knopfloch tragen.«
Es gab andere Damen, die ähnlich aussahen, aus England, Schweden oder Amerika nach Paris gekommen waren und jetzt in den Korbsesseln in der Halle saßen, wo man das ölige Surren der elektrischen Ventilatoren hörte.
»Es ist ihr doch hoffentlich nichts zugestoßen?«
Es war schon fast sieben Uhr, als Maigret am Quai des Orfèvres aus dem Taxi stieg. Auf dem dunklen Bürgersteig hatte er Janvier bemerkt, der gedankenverloren mit einem Paket unter dem Arm herankam, und hatte auf ihn gewartet, um mit ihm die Treppe hinaufzusteigen.
»Wie geht’s, mein lieber Janvier?«
»Na, es geht, Chef.«
»Was trägst du denn da?«
»Mein Abendessen.«
Janvier klagte nicht, aber er hatte den Gesichtsausdruck eines Märtyrers.
»Warum gehst du nicht nach Hause?«
»Wegen dieser unseligen Gertrude.«
Die Büros waren beinahe leer und wurden von Zugluft durchpustet, denn ein frischer
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