Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
einer günstigen Stelle, an der der Fotograf im letzten Augenblick zustieg.
Die Menge verlief sich langsam. Kleine Gruppen unterhielten sich noch eine Weile auf dem Gehsteig.
»Wir können gehen«, seufzte Maigret.
Sie überquerten den Steg hinter der Kathedrale und betraten an der Ecke zum Boulevard du Palais ein Bistro.
»Was nimmst du?«
»Einen Weißwein … Einen Vouvray …«
Weil »Vouvray« mit Kreide auf die Spiegel geschrieben stand.
»Ich auch. Zwei Vouvray.«
Es war fast Mittag, als Van Hamme mit Abzügen in der Hand zu Maigret ins Büro kam.
»Ich bin noch nicht fertig, aber etwas wollte ich Ihnen gleich zeigen. Wir untersuchen zu dritt die Bilder mit einer starken Lupe. Der hier ist mir sofort aufgefallen.«
Auf der ersten Aufnahme vom Quai d’Anjou waren Gesicht und Gestalt nur teilweise zu sehen, halb verdeckt von einer Frau, die sich nach vorn drängelte. Der Mann trug eindeutig einen hellen Regenmantel und einen dunklen Hut. Er war ziemlich jung, um die dreißig, hatte ein Allerweltsgesicht und runzelte die Stirn, als würde ihm etwas missfallen, was in seiner Nähe geschah.
»Hier ist ein etwas besseres Bild …«
Dasselbe Gesicht in der Vergrößerung. Ziemlich dicke Lippen, fast ein Schmollmund, der Blick eines schüchternen Menschen.
»Es ist ebenfalls am Quai d’Anjou aufgenommen. Wir werden sehen, ob er auch auf den Fotos vor der Kirche zu finden ist, die wir gerade entwickeln. Diese hier habe ich sofort heruntergebracht wegen des Regenmantels …«
»War sonst niemand mit Regenmantel drauf?«
»Doch, mehrere, aber nur drei mit Gürtel. Außer dem hier noch ein älterer Mann mit Bart und ein etwa Vierzigjähriger mit Pfeife, ohne Hut.«
»Bringen Sie mir nach dem Mittagessen herunter, was Sie sonst noch gefunden haben.«
Im Grunde besagte der Regenmantel nicht viel. Wenn Antoine Batilles Mörder die Morgenzeitungen gelesen hatte, wusste er, dass sie seine Beschreibung veröffentlicht hatten. Warum sollte er also dieselbe Kleidung tragen wie in der Rue Popincourt? Weil er nichts anderes besaß? Oder weil er so dreist war?
Maigret aß wieder nur mit Lapointe zusammen in der ›Brasserie Dauphine‹, da Janvier und Lucas außer Haus waren.
Um halb drei erhielt Maigret einen Anruf, nach dem ihm leichter wurde. Ein Großteil seiner Sorgen schien wie weggeblasen.
»Spreche ich mit Kommissar Maigret? Ich verbinde Sie mit Monsieur Frémiet, unserem Chefredakteur. Bleiben Sie bitte am Apparat.«
»Sind Sie’s, Maigret?«
Die beiden Männer kannten sich seit langem, Frémiet war Chefredakteur einer der größten Morgenzeitungen.
»Ich will mich nicht nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen … Der Anlass für meinen Anruf ist, dass wir eine ziemlich sonderbare Botschaft erhalten haben. Dazu noch per Rohrpost, was für eine anonyme Zusendung doch recht ungewöhnlich ist.«
»In der Tat …«
»Sie wissen, dass wir heute früh das Foto der Einbrecherbande von Jouy-en-Josas veröffentlicht haben. Unter das Bild des Matrosen meinte mein Redakteur die Frage setzen zu müssen: ›Ist er der Mörder?‹«
»Ich habe es gesehen.«
»Dieser Ausschnitt ist uns nun zugeschickt worden. Darauf steht, mit grüner Tinte und in Großbuchstaben geschrieben, ein einziges Wort: Nein! «
Mit einem Mal hellte sich die Miene des Kommissars auf.
»Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich die Botschaft von einem meiner Männer abholen. Wissen Sie, an welchem Postamt die Rohrpost aufgegeben wurde?«
»Rue du Faubourg Montmartre … Herr Kommissar, dürfte ich Sie bitten, unserer Konkurrenz nichts davon zu erzählen? Ich kann die Sache erst morgen herausbringen. Wir haben die Botschaft bereits abfotografiert und stellen gerade die Druckvorlage her … Es sei denn, Sie möchten, dass Stillschweigen darüber gewahrt wird?«
»Nein, im Gegenteil. Mir wäre sogar recht, wenn Sie etwas dazu schreiben würden … Warten Sie … Am besten, Sie äußern die Meinung, es handle sich offensichtlich um einen Scherz, denn der wirkliche Mörder würde sich nicht derart exponieren wollen …«
»Ich glaube, ich habe verstanden …«
»Herzlichen Dank, Monsieur Frémiet. Ich schicke gleich jemanden zu Ihnen.«
Er ging zu den Inspektoren hinüber, schickte einen von ihnen in die Champs-Elysées und bat Lapointe, zu ihm herüberzukommen.
»Sie wirken so optimistisch, Chef …«
»Sachte, sachte! Es kann immer noch sein, dass ich mich täusche …«
Er berichtete ihm über den Zeitungsausschnitt und das mit
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