Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
aufgeregt hereingestürzt kam.
»Schwein gehabt, Chef, pardon, das war ein Riesenglück … Sie hatten recht. Als ich auf der anderen Seite des Stegs bin, merke ich, dass ich keine Zigaretten mehr habe. Ich nehme die Rue Saint-Louis en l’Ile, gehe an der Ecke in das Café, in dem sie auch Tabakwaren verkaufen, und wen sehe ich da?«
»Das Mädchen auf dem Foto, das ich dir gegeben habe …«
»Genau. Sie bedient dort. Schwarzes Kleid mit weißer Servierschürze. An einem Tisch spielten vier Männer Karten, der Metzger, der Lebensmittelhändler, der Wirt und einer, der mir den Rücken zukehrte. Ich kaufte meine Zigaretten und setzte mich an einen Tisch. Als sie mich fragen kam, was ich trinken wolle, bestellte ich einen Kaffee, und sie ging mir an der Theke einen Espresso machen.
›Wann schließen Sie abends?‹
Sie schaute mich verwundert an.
›Manchmal früher, manchmal später. Ich arbeite allerdings nur bis sieben Uhr, weil ich morgens immer aufmache.‹
Ich habe bezahlt, sie hat mir das Rückgeld gebracht und ist weggegangen, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Ich wollte sie nicht vor dem Wirt ansprechen und habe mir gedacht, dass Sie das lieber selbst machen …«
»Ja, stimmt.«
»Sie scheint ständig mit den Tränen zu kämpfen. Sie kommt einem vor, als würde sie im Nebel herumlaufen. Ihre Nase ist schon ganz rot.«
Janvier kam erst um sechs Uhr zurück.
»Es war eine Soziologievorlesung. Eine, die er angeblich nie verpasst hat. Ich habe auf dem Hof gewartet und konnte die Studenten drinnen auf ihren Bänken sitzen sehen. Nach der Vorlesung kamen sie heraus gestürzt.
Ich habe einen ersten, zweiten, dritten angesprochen. Null.
›Antoine Batille? Der jetzt in den Zeitungen steht? Ja, ich weiß, aber ich hatte mit ihm nie näher zu tun … Wenn Sie zufällig einen gewissen Harteau finden könnten …‹
Der dritte angesprochene Student hat um sich geschaut und dann plötzlich einem jungen Mann, der am Weggehen war, zugerufen:
›Harteau! Harteau! Da ist jemand für dich.‹
Und zu mir:
›Entschuldigen Sie mich, ich muss auf den Zug …‹
Andere sind mit dem Moped oder Mofa weggefahren.
›Sie möchten mich sprechen?‹, hat mich ein großer, magerer Junge mit bleichem Gesicht und hellgrauen Augen gefragt.
›Waren Sie mit Antoine Batille befreundet?‹
›Befreundet ist zu viel gesagt. Er war ziemlich kontaktscheu. Wir waren, sagen wir mal, näher bekannt und haben uns manchmal im Hof miteinander unterhalten oder uns mal zusammen in ein Café gesetzt … Ein einziges Mal bin ich bei ihm zu Hause gewesen, aber ich habe mich dort ziemlich unwohl gefühlt … Ich muss dazu sagen, dass meine Mutter Concierge ist, in einem nicht sehr vornehmen Viertel … Nicht dass ich mich schämen würde deswegen … Aber dort wusste ich einfach nicht, wie ich mich benehmen sollte …‹
›Waren Sie bei der Beerdigung heute Vormittag?‹
›Nur in der Kirche. Nachher hatte ich eine wichtige Vorlesung.‹
›Wissen Sie, ob Antoine Batille Feinde hatte?‹
›Er hatte mit Sicherheit keine.‹
›War er beliebt?‹
›Beliebt war er auch nicht … Man hat ihn ebenso wenig beachtet wie er die anderen.‹
›Und Sie? Wie sahen Sie ihn?‹
›Er war ein anständiger Kerl, viel sensibler, als er sich nach außen gab … Ich glaube, er war sogar zu sensibel und verschloss sich deshalb ziemlich schnell …‹
›Hat er Ihnen von seinem Tonbandgerät erzählt?‹
›Er hat mich sogar einmal gefragt, ob ich nicht mit ihm kommen wolle. Er war völlig fasziniert davon, hat behauptet, die Stimme sage mehr über die Leute aus als ein Foto. Ich weiß noch, wie er einmal sagte: ’Leute, die hinter Bildern her sind, gibt es haufenweise. Aber ich kenne bis jetzt noch keinen, der Stimmen und Klängen hinterherjagt.’
Er hoffte, zu Weihnachten eines dieser neuen Minigeräte aus Japan zu bekommen. Die passen angeblich in die hohle Hand. In Frankreich gibt es sie noch nicht, aber sie sollen demnächst kommen. Er hat wahrscheinlich aus Fachzeitschriften davon erfahren …‹
›Hatte er Freundinnen?‹
›Nein, nicht dass ich wüsste. Es war nicht seine Art, dafür war er zu schüchtern, zu zurückhaltend. In den letzten Wochen war er allerdings verliebt.
Er konnte es mir gegenüber nicht verheimlichen. Er musste sich jemandem anvertrauen, und seine Schwester spottete ja immer, er sei das Mädchen in der Familie und sie der Junge.
Ich habe sie nie gesehen, aber ich weiß, dass sie auf der Ile Saint-Louis
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