Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
erregt durch die Haare, so daß sie ihm wild vom Kopf abstanden. Er wirkte dadurch viel magerer. Die Ringe unter den Augen und seine blasse Gesichtsfarbe traten jetzt viel mehr hervor.
»Worauf warten Sie noch? Nehmen Sie mich doch fest!«
»Sei still!« fuhr ihn seine Geliebte an.
Aber auch sie wurde immer verwirrter, was sie aber nicht daran hinderte, ihren Freund mit einem prüfenden Blick zu messen.
Ahnte sie etwas? Spielte sie nur Komödie?
»Wenn Sie mich verhaften müssen, so tun Sie es gleich! Aber ich verlange, diesem Herrn vorgeführt zu werden! Wir werden dann schon sehen …«
Maigret hatte auf einen Klingelknopf gedrückt, und der Sekretär des Kommissars steckte den Kopf zur Tür herein. Seine Miene war besorgt.
»Sie behalten Monsieur und Madame bis morgen früh hier und warten, bis der Untersuchungsrichter seine Entscheidung gefällt hat.«
»Lump!« schrie Adèle ihn an und spuckte auf den Fußboden. »So, man will die Wahrheit aus mir herausquetschen? Und was ich bis jetzt erzählt habe, war alles erfunden? Ich werde kein Protokoll unterschreiben! Sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen! Oh! So ist das!
Mach dir nichts draus, Gaston!« wandte sie sich an ihren Freund. »Wir sind im Vorteil. Und du wirst sehen, am Ende kriegen wir die alle dran. Natürlich, eine Frau, die in den Akten der Sittenpolizei steht, steckt man am besten gleich in den Knast. Könnte nicht ich zufällig den Kapitän umgebracht haben?«
Maigret hatte keine Lust, ihnen noch länger zuzuhören und ging hinaus. Draußen atmete er die Seeluft tief ein und klopfte die Asche aus seiner Pfeife. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als er Adèles Stimme vernahm, die den Beamten in der Polizeiwache die ordinärsten Ausdrücke an den Kopf warf.
Es war zwei Uhr früh. Die Nacht war von einer unwirklichen Stille. Es war Flut, und die sanft schaukelnden Masten der Fischkutter ragten über die Dächer der Häuser hinaus. Leise plätscherte das Wasser gegen die Mole.
Die »Océan« lag in grellem Lichtschein. Immer noch wurde Ladung gelöscht. Man arbeitete Tag und Nacht. Sobald ein Waggon gefüllt war, stemmten sich die Arbeiter dagegen und schoben ihn weiter.
Das Rendez-vous des Terre-Neuvas war geschlossen. Als Maigret zum Hôtel de la Plage kam, öffnete ihm der Portier, der sich eine Hose über das Nachthemd gestreift hatte.
In der Halle brannte nur eine Lampe. Deshalb konnte Maigret die Frau, die in einem Korbsessel saß, nicht gleich sehen.
Es war Marie Léonnec. Ihr Kopf lag auf ihrer Schulter. Sie schlief.
»Ich glaube, sie wartet auf Sie«, flüsterte der Portier.
Sie war sehr blaß. Sicher litt sie unter Blutarmut. Ihre Lippen waren fast farblos. Dunkle Ringe unter den Augen verrieten ihre Müdigkeit. Ihr Mund war halb geöffnet, so als bekäme sie nicht genug Luft.
Maigret berührte sie sanft an der Schulter. Sie zuckte zusammen, richtete sich auf und sah ihn verwirrt an.
»Oh, ich bin eingeschlafen …«
»Warum sind Sie nicht zu Bett gegangen? Hat meine Frau Sie nicht auf Ihr Zimmer gebracht?«
»Doch. Aber ich bin leise wieder heruntergekommen. Ich wollte hören … Sagen Sie mir …«
Ihr sonst hübsches Gesicht hatte unter dem Schlaf gelitten. Ihre Haut glänzte feucht, und ein Mückenstich hatte einen roten Fleck auf ihrer Stirn hinterlassen.
Ihr Kleid aus grober Seide, das sie bestimmt selbst genäht hatte, war zerknittert.
»Haben Sie etwas Neues entdeckt? … Nein? … Wissen Sie, ich hab viel nachgedacht … Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll … Bevor ich Pierre morgen treffe, möchte ich, daß Sie mit ihm sprechen, daß Sie ihm sagen, daß ich alles von dieser Frau weiß und daß ich ihm nicht böse bin … Sehen Sie, ich bin überzeugt, daß er unschuldig ist. Nur, es wäre ihm peinlich, wenn ich als erste mit ihm darüber spräche. Sie haben ihn ja gesehen heute morgen. Er quält sich. Ist es nicht ganz natürlich, daß er, wenn eine Frau an Bord war …«
Sie kam nicht weiter. Es ging über ihre Kräfte. Sie fing an zu schluchzen, und ihre Tränen wollten kein Ende mehr nehmen.
»Es darf vor allem nichts in die Zeitungen kommen. Meine Eltern dürfen es nicht erfahren. Sie würden es nicht verstehen. Sie …«
Sie schluckte.
»Sie müssen den Mörder finden! … Ich glaube, wenn ich die Leute selbst verhören könnte … Entschuldigen Sie, ich weiß ja nicht mehr, was ich sage … Aber Sie kennen Pierre nicht! … Ich bin zwei Jahre älter als er … Er ist wie ein Kind … Vor
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