Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
unentwegt. Sie erreichten den Hafen. Die buntgestrichenen Fischerboote leuchteten in der Sonne. Man sah viele Spaziergänger.
Ihr Weg führte sie an der »Océan« vorüber. Heute würde man mit dem Entladen fertig werden. Es standen nur noch drei Waggons da.
Maigret hob die Hand und deutete in verschiedene Richtungen. Dabei sagte er in gleichgültigem Ton:
»Dort waren Sie … Gaston Buzier hier … Und an dieser Stelle war ein Dritter, der den Kapitän erwürgt hat …«
Der andere holte tief Luft und wandte den Kopf ab.
»Allerdings war es dunkel und Sie konnten einander nicht erkennen. Jedenfalls handelte es sich bei diesem Dritten weder um den Chefmaschinisten noch um den Ersten Offizier, denn beide waren zusammen mit der Mannschaft im Rendez-vous des Terre-Neuvas.«
Der Bretone, der sich an Deck befand, entdeckte den Funker und rief etwas in die Decksluke hinunter. Gleich erschienen drei Matrosen, um Le Clinche zu sehen.
»Kommen Sie!« sagte Maigret. »Marie Léonnec erwartet uns.«
»Ich kann nicht.«
»Was können Sie nicht?«
»Mit Ihnen gehen … Ich flehe Sie an, lassen Sie mich! Was kann es Ihnen schon ausmachen, wenn ich mir etwas antue? Überhaupt wäre es das Beste für alle!«
»Lastet das Geheimnis so schwer auf Ihnen, Le Clinche?«
Der andere schwieg.
»Und Sie haben wirklich nichts zu sagen, nicht wahr? Doch, da wäre noch etwas: Begehren Sie Adèle noch?«
»Ich hasse sie!«
»Das wollte ich nicht wissen! Ich sagte begehren , so wie Sie sie während der ganzen Fahrt begehrt haben … Unter uns Männern: Haben Sie viele Abenteuer gehabt, bevor Sie Marie Léonnec kennenlernten?«
»Nein, nur belanglose Affären.«
»Es hat Sie nie die Leidenschaft, eine solche Lust auf eine Frau gepackt, daß Sie hätten weinen mögen?«
»Nie«, seufzte er und wandte den Kopf ab.
»Aber auf dem Schiff ist es dann passiert. Inmitten einer harten, monotonen Umgebung gab es nur diese eine Frau. Ein wohlriechender Körper inmitten dieses stinkenden Fischdampfers … Was sagten Sie?«
»Nichts.«
»Haben Sie Ihre Braut vergessen?«
»Das ist nicht dasselbe …«
Maigret schaute in sein Gesicht und war verblüfft über die Veränderung, die darin vorgegangen war. Ein eigensinniger, starrer Ausdruck war in seinen Augen, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug. Und doch blieb etwas Sehnsüchtiges, etwas Träumerisches in diesem Gesicht zurück.
»Marie Léonnec ist hübsch«, setzte Maigret seinen Gedankengang fort.
»Ja.«
»Und sehr viel vornehmer als Adèle. Zudem liebt sie Sie. Sie würde alles opfern, um …«
»So schweigen Sie doch!« stöhnte der Funker. »Sie wissen genau, daß … daß …«
»Daß das was anderes ist. Daß Marie Léonnec ein anständiges Mädchen ist, daß sie eine vorbildliche Ehefrau sein wird, daß sie ihre Kinder gut versorgen wird, aber … aber Sie würden immer etwas vermissen, nicht wahr? … Etwas Stürmisches. Etwas, das Sie an Bord kennengelernt haben, als Sie sich, etwas bang ums Herz, in die Kabine des Kapitäns stahlen und in den Armen Adèles lagen. Etwas Vulgäres, Brutales. Das Abenteuer. Und die Lust zu beißen, einen endgültigen Schritt zu tun, zu töten oder zu sterben.«
Le Clinche sah ihn erstaunt an.
»Woher wis…«
»Woher ich weiß? Weil jeder mindestens einmal in seinem Leben so ein Erlebnis gehabt hat … Man weint! Man schreit! Man schluchzt! Dann steht man zwei Wochen später einem Mädchen wie Marie Léonnec gegenüber, und man fragt sich, wie man sich von einer Adèle so hat betören lassen können …«
Während sie so dahingingen, starrte der junge Mann unablässig auf das glitzernde Wasser im Hafenbecken, in dem sich die Masten der weißen, roten oder grünen Boote spiegelten.
»Die Fahrt ist zu Ende. Adèle ist weg. Marie Léonnec ist da.«
Maigret schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr:
»Eine dramatische Wendung ist eingetreten: Ein Mann ist ermordet worden, weil die Leidenschaft an Bord war und …«
Le Clinche war schon wieder einem Wutanfall nahe.
»Schweigen Sie! Schweigen Sie!« fuhr er Maigret schroff an. »Nein! Sie sehen doch, daß es nicht möglich ist …«
Er hatte den Blick eines Irren. Er drehte sich nach der »Océan« um. Jetzt fast leer, lag sie wie ein Monstrum hoch im Wasser.
Wieder packte ihn der Schrecken.
»Ich schwöre Ihnen … Lassen Sie mich …«
»Auch der Kapitän lebte während der ganzen Fahrt in Angst, nicht wahr?«
»Was meinen Sie damit?«
»Und der
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