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Maigret bei den Flamen

Maigret bei den Flamen

Titel: Maigret bei den Flamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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fliehende Blick war unangenehm, und noch unangenehmer das verlegene Lächeln, das der Mann au f setzte.
    »Bist du nicht der Schiffsjunge von der ›Etoile Polaire‹?«
    Der andere nickte eifrig mit dem Kopf.
    »Hast du mir aufgelauert?«
    Auf dem auffallend länglichen Gesicht des jungen Mannes zeichnete sich eine Mischung aus Angst und Freude ab. Hatte der Schiffer nicht erzählt, daß der Schiffsjunge geistig zurückgeblieben war und ab und zu epileptische Anfälle hatte?
    »Lach nicht! Sag mir, was du hier machst …«
    »Ich beobachte Sie.«
    »Hat dein Chef dir gesagt, daß du mich überwachen sollst?«
    Es war unmöglich, mit diesem armen Teufel hart umzuspringen, der um so bedauernswerter war, als er in der Blüte seiner Jugend stand. Er war zwanzig. Obwohl er sich nicht rasierte, blieb sein Bartwuchs spärlich; die dünnen, blonden Haare waren kaum einen Zentimeter lang. Sein Mund war unnatürlich groß, fast doppelt so groß wie normal.
    »Schlagen Sie mich nicht!«
    »Komm!«
    Einige Kähne hatten ihren Platz gewechselt. Zum ersten Mal seit Wochen herrschte emsiges Treiben an Bord, denn man bereitete sich auf die Abfahrt vor. Man sah die Frauen Vorräte einkaufen. Die Zöllner machten die Runde und inspizierten die Schiffe.
    Durch die Abfahrt einiger Schleppzüge lag die »Etoile Polaire« jetzt allein, und ihr Bug hatte sich ein wenig vom Ufer gelöst. In der Kajüte war Licht.
    »Geh vor!«
    Man mußte über einen Steg gehen, der nur aus einer einzigen schwankenden Planke bestand.
    Obwohl die Petroleumlampe brannte, war niemand an Bord.
    »Wo bewahrt dein Chef sein Sonntagszeug auf?«
    Maigret war auf einige Unordnung gefaßt.
    Der Schiffsjunge öffnete einen Wandschrank und blickte erstaunt hinein. Am Boden lagen die Kleidungsstücke, die der Schiffer noch am Morgen getragen hatte.
    »Und sein Geld?«
    Heftiges Kopfschütteln. Der Trottel hatte keine Ahnung! Das Geld war versteckt!
    »Schon gut! Du kannst hierbleiben.«
    Maigret zog den Kopf ein, stieg wieder an Deck und stieß fast mit einem Zöllner zusammen.
    »Haben Sie zufällig den Mann von der ›Etoile Polaire‹ gesehen?«
    »Nein! Ist er nicht an Bord? Ich dachte, er wollte morgen in aller Frühe abfahren.«
    »Gehört das Schiff ihm?«
    »Ach wo! Es gehört einem seiner Kusins, der in Flémalle lebt. Ein Sonderling wie er selbst …«
    »Was mag er mit dem Schiff verdienen?«
    »Sechshundert Francs im Monat? Vielleicht ein bißchen mehr, wenn man den Schmuggel dazurechnet. Aber nicht viel …«
    Das Haus der Flamen war erleuchtet. Nicht nur im Laden, auch in der ersten Etage brannte Licht.
    Einige Augenblicke später läutete die Ladenglocke. Maigret putzte seine Schuhe an der Fußmatte ab und rief Madame Peeters zu, die schon angelaufen kam:
    »Lassen Sie sich nicht stören!«
     
     
    Als sie ihn in das Eßzimmer führte, sah er gleich Marguerite van de Weert, die in einer Partitur blätterte.
    In ihrem Kleid aus blaßblauem Satin sah sie noch graziler und ätherischer aus als je zuvor. Sie empfing den Kommissar mit einem einladenden Lächeln.
    »Sind Sie gekommen, um Joseph zu sprechen?«
    »Ist er nicht hier?«
    »Er ist hinauf gegangen und zieht sich um. Es ist unverantwortlich von ihm, die Strecke bei solchem Wetter mit dem Motorrad zu fahren. Vor allem er, der seine G e sundheit schonen sollte, zumal er durch sein Studium so überlastet ist …«
    Das war keine Liebe! Das war Anbetung! Man hatte das Gefühl, daß sie fähig wäre, den jungen Mann stu n denlang in stummer Andacht anzuhimmeln!
    Was war eigentlich das Besondere an ihm, das solche Gefühle wecken konnte? Sprach nicht auch seine Schw e ster ebenso ehrfürchtig von ihm?
    »Ist Anna bei ihm?«
    »Sie legt ihm die Sachen zurecht.«
    »Und Sie? Sind Sie schon lange hier?«
    »Eine Stunde.«
    »Wußten Sie, daß Joseph Peeters kommen würde?«
    Sie war ein wenig verlegen, aber nur einen Augenblick lang, und antwortete rasch:
    »Er kommt jeden Samstag um die gleiche Zeit.«
    »Gibt es ein Telefon hier im Haus?«
    »Hier nicht. Aber bei uns natürlich. Mein Vater muß ständig erreichbar sein.«
    Er wußte nicht, warum sie anfing, ihm zu mißfallen. Oder, genauer gesagt, ihm auf die Nerven zu gehen. Er mochte ihre babyhafte Art nicht, ihre gewollt kindliche Art zu sprechen, ihren Blick, der unschuldsvoll wirken sollte.
    »Hören Sie? Jetzt kommt er herunter …«
    Und tatsächlich hörte man Schritte auf der Treppe. Joseph Peeters betrat das Eßzimmer, ganz sauber und korrekt,

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