Maigret bei den Flamen
ihm?«
»Er ist sehr gefaßt und zuversichtlich …«
Würde sie wieder anfangen zu weinen? Die Oberin nickte Maigret ermutigend zu. Sie war froh, ihn mit e i ner Ruhe und Bestimmtheit sprechen zu hören, die sich nur günstig auf eine Kranke auswirken konnten.
»Anna hat mir gesagt, Sie hätten sich entschlossen, den Schleier zu nehmen …«
Maria weinte erneut. Sie versuchte nicht einmal, es zu verbergen. Jede Koketterie war ihr fremd, und sie wan d te ihr glänzendes, geschwollenes Gesicht nicht zur Seite.
»Das ist eine Entscheidung, die wir seit langem erwa r tet haben«, sagte die Oberin leise. »Maria gehört mehr der Religion als dieser Welt …«
Ein neuer Weinkrampf schüttelte Marias mageren Körper, und ihre Hände klammerten sich an die Bettdecke.
»Sie sehen, daß ich vorhin gut beraten war, den anderen Herrn nicht heraufkommen zu lassen!«
Maigret stand noch immer in seinem Mantel da, der ihn noch untersetzter wirken ließ. Er betrachtete das kleine Bett, das verstörte Mädchen.
»War der Arzt schon bei ihr?«
»Ja … Er sagt, die Verstauchung sei nicht weiter schlimm, wohl aber die nervöse Krise, die im Anschluß daran ausgebrochen ist … Wollen wir sie allein lassen? B e ruhigen Sie sich, Maria. Ich werde Mutter Julienne heraufschicken und sie bitten, bei Ihnen zu bleiben …«
Maigret betrachtete ein letztes Mal das Weiß des Bettes, die aufgelösten Haare auf dem Kopfkissen und die weit aufgerissenen Augen, die ihn fixierten, während er rückwärts zur Tür ging.
Auf dem Korridor sprach die Oberin mit gedämpfter Stimme und glitt über den gebohnerten Boden dahin.
»Sie war nie sehr gesund. Der Skandal hat sie sehr mitgenommen, und ihren Sturz auf der Treppe wird man sicher auch dieser Aufregung zuschreiben müssen. Sie schämt sich für ihren Bruder und für die Ihren. Sie hat mir mehrfach anvertraut, daß sie fürchtet, der O r den werde sie nach alledem nicht mehr in seinen Schoß aufnehmen. Stundenlang liegt sie teilnahmslos da und starrt die Decke an, ohne das Geringste zu sich zu nehmen. Dann, ohne ersichtlichen Grund, kommt es wi e der zu einer Krise. Der Arzt gibt ihr Spritzen, damit sie wieder zu Kräften kommt …«
Sie waren in der Eingangshalle angelangt.
»Darf ich Sie fragen, was Sie von dieser Angelegenheit halten, Herr Kommissar?«
»Sie dürfen, aber es fällt mir nicht leicht, Ihnen zu antworten. Um ganz offen zu sprechen: ich weiß noch nichts. Morgen erst …«
»Glauben Sie, morgen mehr zu wissen?«
»Ich kann Ihnen nur noch einmal danken, Ehrwürdige Mutter, und mich wegen meines Besuchs entschuld i gen … Vielleicht darf ich mir erlauben, Sie anzurufen, um mich nach dem Befinden Marias zu erkundigen?«
Schließlich stand er wieder draußen. Er atmete die frische, vom Regen gesättigte Luft ein und ging zu seinem Wagen, der am Fahrbahnrand auf ihn wartete.
»Nach Givet!«
Er stopfte genüßlich seine Pfeife und streckte sich schräg auf der Rückbank aus. An einer Kurve in der Nähe von Dinant fiel ihm ein Wegweiser auf:
Grotten von Rochefort
Es ging zu rasch, um die Zahl der Kilometer zu lesen. Er konnte nur einen Blick auf eine ins Unbekannte fü h rende Seitenstraße werfen und stellte sich einen Sommersonntag vor, einen Zug, der mit Ausflüglern überfüllt war, und zwei Paare: Joseph Peeters und Germaine Piedbœuf, Anna und Gérard …
Es war sicherlich warm, und gewiß trugen die Reisenden auf der Rückfahrt Feldblumensträuße im Arm …
Anna, die auf der Bank saß, verletzt, bewegt, verstört, und vielleicht heimlich das Gesicht des Mannes beobachtete, der soeben ihr ganzes Wesen von Grund auf verä n dert hatte.
Und Gérard, sehr fröhlich, unbeschwert, der herum scherzte und nicht fähig war, den Ernst und die Unwiderruflichkeit dessen zu begreifen, was an diesem Nac h mittag geschehen war …
Hatte er versucht, sie wiederzusehen? Gab es eine Fortsetzung dieses Abenteuers?
Nein, antwortete Maigret sich selbst. Anna hatte verstanden! Sie machte sich keine Illusionen über ihren G e fährten! Seit diesem Tage dürfte sie ihm aus dem Weg gegangen sein …
Und er stellte sich vor, wie sie ihr Geheimnis für sich behielt, vielleicht noch monatelang insgeheim die Fo l gen dieser Umarmung fürchtete und den Männern, a l len Männern, unversöhnlichen Haß schwor.
»Soll ich Sie zu Ihrem Hotel fahren?«
Sie waren schon wieder in Givet: die belgische Grenze, der wachhabende Zöllner in seiner khakifarbenen Uniform, die französische
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