Maigret und das Schattenspiel
hörte man hinter Maigret die Stimme Madame Martins.
Und ihr Mann wurde geschäftig, öffnete einen Wandschrank, stieß Gläser aneinander.
»Nur ein Tröpfchen Wermut, Herr Kommissar? Madame Couchet würde Ihnen natürlich Cocktails anbieten können …«
Und Madame Martin zeigte ein süßsaures Lächeln, als schossen ihre spitzen Lippen Giftpfeile.
5
Die Verrückte
M
aigret hielt sein Glas in der Hand und sagte, während er Madame Martin beobachtete:
»Wenn Sie gestern abend doch nur aus dem Fenster gesehen hätten! Dann könnte ich mit meiner Untersuchung längst fertig sein! Denn von hier aus kann einem nichts entgehen, was im Büro von Couchet passiert.«
Weder seiner Stimme noch seiner Haltung hätte man irgendeine Absicht anmerken können. Er schlürfte seinen Wermut und plauderte weiter.
»Das hätte sogar eine der sensationellsten Zeugenaussagen in einem Mordprozeß werden können. Ein Augenzeuge, der den Mord aus der Ferne verfolgt hat! Stellen Sie sich vor: Mit einem Fernglas hätte man die Lippen so deutlich gesehen, daß man sogar ihre Unterhaltung hätte rekonstruieren können …«
Madame Martin wußte nicht, was sie davon halten sollte, und hielt sich zurück, während ein vages Lächeln auf ihren bleichen Lippen erstarrte.
»Andererseits – welch ein Schock für Sie! Ganz ruhig an Ihrem Fenster zu sitzen und plötzlich mit ansehen zu müssen, wie jemand Ihren früheren Mann bedroht! Schlimmer noch, denn die Szene muß noch komplizierter gewesen sein. Ich sehe Couchet vor mir, wie er ganz allein über seinen Abrechnungen sitzt. Dann steht er auf und geht zur Toilette. Als er zurückkommt, hat jemand den Tresor durchwühlt, aber nicht mehr rechtzeitig fliehen können … Ein Detail ist allerdings merkwürdig an diesem Fall: nämlich, daß Couchet sich wieder gesetzt hat. Sollte er den Dieb vielleicht gekannt haben? Er spricht ihn an. Er macht ihm Vorwürfe, fordert ihn auf, das Geld zurückzugeben …«
»Nur hätte ich dann tatsächlich am Fenster gewesen sein müssen!« brachte Madame Martin hervor.
»Vielleicht hat man von anderen Fenstern dieser Etage den gleichen Einblick? Wer wohnt rechts neben Ihnen?«
»Zwei junge Mädchen und ihre Mutter. Die, die jeden Abend den Plattenspieler laufen lassen …«
In diesem Augenblick ertönte ein Schrei, den Maigret schon einmal gehört hatte. Er blieb eine Sekunde lang still und murmelte dann:
»Die Verrückte, nicht wahr?«
»Pst …« machte Madame Martin und ging geräuschlos auf Zehenspitzen zur Tür.
Unvermittelt öffnete sie die Tür. In dem schlecht beleuchteten Korridor erblickte man die Silhouette einer Frau, die sich hastig entfernte.
»Alte Ziege!« schimpfte Madame Martin, laut genug, daß die andere es hören konnte.
Sie drehte sich wütend um und erklärte dem Kommissar:
»Das war die alte Mathilde! Sie war früher Köchin. Haben Sie sie gesehen? Wie eine fette Kröte! Sie wohnt in der Nachbarwohnung, zusammen mit ihrer geisteskranken Schwester. Eine ist so alt und häßlich wie die andere! Seit wir hier wohnen, hat die Verrückte ihr Zimmer noch nicht einmal verlassen.«
»Warum schreit sie so?«
»Das ist es ja eben! Das überkommt sie, wenn man sie im Dunkeln allein läßt. Sie hat Angst wie ein Kind. Sie kreischt … Mir ist inzwischen aufgegangen, was sich da abspielt. Von morgens bis abends streicht die alte Mathilde durch die Flure. Man trifft sie ständig hinter irgendeiner Tür an, und wenn man sie überrascht, ist ihr das nicht einmal besonders peinlich. Dann geht sie mit ihrem feisten Krötengesicht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Das ist so schlimm, daß man sich in seiner eigenen Wohnung nicht mehr unbeobachtet fühlen kann und leise sprechen muß, wenn man sich über familiäre Angelegenheiten unterhält … Diesmal habe ich sie auf frischer Tat ertappt, nicht wahr? Nun, ich wette, daß sie schon wieder zurückgekommen ist …«
»Das ist nicht sehr angenehm!« stimmte Maigret ihr zu. »Unternimmt der Hauseigentümer denn nichts dagegen?«
»Er hat alles Mögliche versucht, um sie vor die Tür zu setzen … Leider gibt es da Gesetze … Ganz abgesehen davon, daß das weder besonders gesund noch appetitlich ist, diese beiden Alten in einem kleinen Zimmer! Ich wette, daß sie sich nie waschen.«
Der Kommissar hatte seinen Hut genommen.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe. Ich muß jetzt gehen …«
Von nun an hatte er in seinem Kopf ein genaues Bild der Wohnung, von den Schutzdeckchen
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