Maigret und das Schattenspiel
sich zu setzen und Madame Maigret mit besonderer Zärtlichkeit und zugleich mit einer gewissen Beunruhigung anzusehen.
Er hatte immer noch das hagere Gesicht, die schwarze Kleidung und den leidenden Blick von Madame Martin vor Augen.
Und diese Tränen, die plötzlich hervorquollen, dann wieder verschwanden, wie von einem inneren Feuer verzehrt, um kurz darauf wieder hervorzuströmen …
Madame Couchet, die Pelzmäntel besaß … Madame Martin, die keinen hatte … Couchet, der die Verpflegung für die Teilnehmer der Tour de France organisierte, und seine erste Frau, die drei Jahre lang mit demselben Hut herumlaufen mußte …
Und der Sohn … Das Ätherfläschchen auf dem Nachttisch im Hotel Pigalle …
Und Céline, die nur dann wieder auf die Straße ging, wenn sie gerade keinen festen Freund hatte …
Und Nine …
»Du siehst unzufrieden aus … Du bist schlecht gelaunt … Als ob du eine Erkältung ausbrüten würdest.«
Das stimmte! Maigret spürte ein Kribbeln in der Nase, und sein Kopf war wie leer.
»Was ist das für ein Schirm, den du da mitgebracht hast? Der ist ja scheußlich!«
Madame Martins Regenschirm! Das Ehepaar Martin, hellgrauer Mantel und schwarzes Seidenkleid, beim Sonntagsspaziergang auf den Champs Elysées …
»Der hat nichts zu bedeuten. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme!«
Manchmal hat man ein Gefühl, das man sich nicht erklären kann: Irgend etwas in diesem Haus schien nicht normal zu sein, irgend etwas, das man schon von außen spüren konnte.
War es das geschäftige Treiben in dem Laden mit den Trauerkränzen? Offenbar hatten die Mieter zusammengelegt, um einen Kranz zu spenden.
Oder war es der gehetzte Blick des Damenfriseurs, dessen Salon der Toreinfahrt gegenüberlag?
Jedenfalls hatte das Haus an diesem Tag etwas Unheimliches an sich. Und da es vier Uhr war und dunkel zu werden begann, brannte die lächerliche kleine Glühbirne unter der Toreinfahrt bereits.
Gegenüber schloß der Parkwächter die Gittertore. Im ersten Stock zog der Diener der Saint-Marcs langsam und gewissenhaft die Vorhänge zu.
Als Maigret an die Tür der Portiersloge klopfte, traf er Madame Bourcier, die Concierge, dabei an, wie sie einem Lieferboten von Dufayel, der über seiner blauen Livree ein kleines Tintenfäßchen an einer Kette um den Hals trug, von den Ereignissen erzählte.
»Ein Haus, in dem noch nie etwas passiert ist … Pst! Da kommt der Kommissar …«
Ihr Aussehen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von Madame Martin. Beide waren ohne Alter und schienen auch ohne Geschlecht zu sein. Und beide waren unglücklich oder hielten sich dafür.
Die Concierge war allerdings von noch größerer Resignation geprägt, einer fast animalischen Ergebenheit in ihr Schicksal.
»Jojo, Lili, ihr sollt aus dem Weg gehen! Guten Tag, Herr Kommissar. Ich hatte Sie heute morgen erwartet. Was für eine Geschichte! Ich hoffe, ich habe richtig gehandelt, indem ich bei allen Mietern eine Spendenliste für einen Kranz habe herumgehen lassen. Weiß man schon, wann die Beisetzung stattfinden wird? … Übrigens, Madame de Saint-Marc, Sie wissen schon … Nun, ich wollte Sie bitten, ihr nichts zu sagen. Monsieur de Saint-Marc ist heute morgen zu mir gekommen. Er fürchtet, sie könnte sich aufregen, und in ihrem Zustand …«
Im Hof schoben die beiden Lampen, die unter der Toreinfahrt und die an der Wand, lange gelbe Streifen unter den bläulichen Dunst.
»Die Wohnung von Madame Martin?« fragte Maigret.
»Zweiter Stock, die dritte Tür links vom Treppenabsatz.«
Der Kommissar erkannte das erleuchtete Fenster wieder, aber diesmal zeichnete sich kein Schatten auf dem Vorhang ab.
Aus der Richtung des Laboratoriums hörte man Schreibmaschinengeklapper. Ein Lieferbote kam herein:
»Dr. Rivières Seren?«
»Hinten im Hof, rechte Tür. Willst du wohl deine Schwester in Ruhe lassen, Jojo!«
Maigret betrat das Treppenhaus, Madame Martins Regenschirm unter dem Arm. Bis zum ersten Stock war das Haus renoviert, die Wände waren gestrichen und die Treppenstufen lackiert.
Mit dem zweiten Stock begann eine andere Welt, mit schmutzigen Wänden und abgetretenen Dielenbrettern. Die Wohnungstüren waren in einem abstoßenden Braun gestrichen. An den Türen sah man entweder angeheftete Visitenkarten oder kleine, gravierte Aluminiumschilder.
Eine Visitenkarte, hundert Stück zu drei Francs:
»Monsieur und Madame Edgar Martin.« Rechts daneben eine dreifarbige Klingelschnur mit einer weichen Troddel am
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