Maigret und das Schattenspiel
Polizeibericht aufgeschlagen, mit den Fotografien von etwa zwanzig Verdächtigen, die auf der Fahndungsliste standen. Die meisten hatten brutale Gesichter. Köpfe, die die Kennzeichen der Entartung trugen.
Ernst Strowitz, wegen Mordes an einer Bäuerin auf der Landstraße nach Benonville vom Strafgericht in Caen in Abwesenheit verurteilt …
Darunter der Hinweis in Rot: Gefährlich. Trägt Schußwaffen.
Ein Kerl, der seine Haut teuer verkaufen würde. Aber Maigret hätte sich lieber mit ihm abgegeben als mit diesem zähen grauen Alltagsschmutz, diesen Familiengeschichten und diesem Verbrechen, das er noch nicht erklären konnte, das ihm aber wie ein Alptraum erschien.
Ein Bild verfolgte ihn: die Martins, wie er sie sich am Sonntag auf den Champs Elysées vorstellte. Der hellgraue Mantel und das schwarze Seidenband um den Hals der Frau.
Er klingelte. Jean erschien, und Maigret ließ sich von ihm die Karteikarten holen, die er von allen Personen erbeten hatte, die in das Drama verwickelt waren.
Es gab nichts Besonderes. Nine war einmal, nur ein einziges Mal, auf dem Montmartre bei einer Razzia aufgegriffen worden, und man hatte sie wieder freigelassen, weil sie nachweisen konnte, daß sie nicht von der Prostitution lebte.
Der junge Couchet hingegen wurde vom Glücksspieldezernat sowie von der Rauschgiftabteilung beobachtet, die ihn verdächtigte, mit Drogen zu handeln. Aber man hatte ihm nie etwas Genaues nachweisen können.
Ein Anruf bei der »Sitte«. Céline, die mit Nachnamen Loiseau hieß und in Saint-Amand-Montrond geboren war, war dort gut bekannt. Sie kam ziemlich regelmäßig zur Kontrolle.
»Das ist keine von der üblen Sorte«, erklärte ihm der Beamte. »Meistens begnügt sie sich mit ein oder zwei festen Freunden. Wir bekommen sie nur zu sehen, wenn sie wieder auf die Straße geht.«
Jean, der Bürodiener, hatte den Raum nicht verlassen, und er zeigte Maigret etwas.
»Die Dame hat ihren Regenschirm vergessen!«
»Ich weiß.«
»Ach!«
»Ja, ich brauche ihn noch.«
Und der Kommissar erhob sich seufzend, ging zum Fenster, schloß es wieder und stellte sich mit dem Rücken vor den Ofen, in der Haltung, die er einzunehmen pflegte, wenn er nachdenken mußte.
Eine Stunde später hatte er bereits alle wesentlichen Einzelheiten der Notizen im Kopf, die ihm die verschiedenen Abteilungen hatten zukommen lassen und die auf seinem Schreibtisch herumlagen.
Zunächst der Autopsiebericht, der die Auffassung des Gerichtsmediziners bestätigte: Der Schuß war aus einer Entfernung von ungefähr drei Metern abgegeben worden, und der Tod war sofort eingetreten. Der Magen des Toten enthielt eine geringe Menge Alkohol, aber keine feste Nahrung.
Die Fotografen des Erkennungsdienstes, die im Dachgeschoß des Justizpalastes arbeiteten, gaben an, daß kein einziger interessanter Fingerabdruck gefunden worden war.
Schließlich bestätigte der Crédit Lyonnais, daß Couchet, der dort bestens bekannt war, gegen halb vier in der Hauptstelle erschienen war und sich dreihunderttausend Francs in neuen Scheinen hatte auszahlen lassen, wie er es einen Tag vor Monatsende immer zu tun pflegte.
Es konnte daher als ziemlich sicher gelten, daß Couchet bei seiner Rückkehr zur Place des Vosges die dreihunderttausend Francs in den Geldschrank gelegt hatte, zu den sechzigtausend, die sich schon darin befanden.
Da er noch zu tun hatte, hatte er den Schrank, dem er den Rücken zukehrte, nicht verschlossen.
Das Licht im Laboratorium deutete darauf hin, daß er sein Büro irgendwann verlassen hatte, sei es, um sich in den anderen Räumen umzusehen, sei es, um zur Toilette zu gehen, was das wahrscheinlichste war.
Aber lag das Geld noch immer im Tresor, als Couchet seinen Platz wieder einnahm?
Wahrscheinlich nicht, denn dann hätte der Mörder die Leiche zur Seite schieben müssen, um die Panzertür öffnen und die Scheine wegnehmen zu können.
Das war die technische Seite der Angelegenheit. Handelte es sich um einen Raubmörder oder aber um einen Dieb und einen Mörder , die unabhängig voneinander handelten?
Maigret verbrachte zehn Minuten bei dem Untersuchungsrichter, um ihm die bisher gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen. Und da es schon kurz nach zwölf war, ging er nach Hause, mit hängenden Schultern, was bei ihm ein Zeichen schlechter Laune war.
»Hast du den Fall an der Place des Vosges übernommen?« fragte seine Frau, die davon in der Zeitung gelesen hatte.
»Ja.«
Und Maigret hatte eine ganz merkwürdige Art,
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