Maigret und das Schattenspiel
Ende. Als Maigret daran zog, erklang eine ärmliche Glocke im Inneren der Wohnung. Dann hörte man rasche Schritte. Eine Stimme fragte:
»Wer ist da?«
»Ich bringe Ihnen Ihren Schirm wieder!«
Die Tür ging auf. Die Diele war kaum größer als ein Quadratmeter. An einem Kleiderhaken hing der hellgraue Mantel. Gegenüber sah man durch die geöffnete Tür in ein Zimmer, das zugleich Wohnzimmer und Eßzimmer war, mit einem Rundfunkempfänger, der auf einer kleinen Anrichte stand.
»Entschuldigen Sie die Störung. Sie haben heute morgen Ihren Regenschirm in meinem Büro vergessen …«
»Also doch! Und ich dachte schon, ich hätte ihn im Bus liegenlassen. Ich sagte noch zu Martin …«
Maigret lächelte nicht. Diese Frauen, die die Manie haben, ihren Mann mit dem Nachnamen anzureden, kannte er zur Genüge.
Martin war da, mit seiner gestreiften Hose, über der er eine Hausjacke mit einem großen, kakaofarbenen Tuch trug.
»Bitte kommen Sie doch herein …«
»Ich möchte nicht stören.«
»Sie stören nie bei Leuten, die nichts zu verbergen haben!«
Das elementare, unverwechselbare Kennzeichen einer Wohnung ist deren Geruch. Hier war es eine dumpfe Mischung aus Möbelpolitur, Küchendunst und alten Kleidern.
Ein Kanarienvogel hüpfte in seinem Käfig auf und ab und spritzte von Zeit zu Zeit einen Tropfen Wasser hinaus.
»Biete dem Herrn Kommissar doch den Sessel an …«
Den Sessel! Es gab nur einen Sessel im Zimmer, mit stark geneigter Rückenlehne und einem Lederbezug, der so dunkel war, daß er schwarz erschien.
Und Madame Martin, die sich ganz anders gab als heute morgen, flötete:
»Sie nehmen doch ein Schlückchen? … Aber ja doch! Martin! Bring einen Aperitif!«
Martin machte ein besorgtes Gesicht. Vielleicht hatten sie keinen Aperitif mehr im Haus? Oder es war nur noch ein kleiner Rest in der Flasche?
»Vielen Dank, Madame! Ich trinke nie vor dem Essen.«
»Aber Sie haben doch Zeit …«
Es war trostlos! So trostlos, daß es einem die Lust nehmen konnte, ein Mensch zu sein, in einer Welt zu leben, in der immerhin einige Stunden lang am Tage die Sonne scheint, und in der es richtige Vögel gibt, die in Freiheit leben!
Diese Leute mochten offenbar kein Licht, denn die drei Glühbirnen waren sorgfältig mit dicken, gefärbten Tüchern abgedeckt, die nur einen winzigen Schimmer durchsickern ließen.
»Vor allem Möbelpolitur!« dachte Maigret.
Denn das war der dominierende Geruch . Der massive Eichentisch war übrigens poliert wie eine Schlittschuhbahn.
Monsieur Martin hatte das Lächeln eines Hausherrn aufgesetzt, der einen Empfang gibt.
»Sie müssen einen wundervollen Blick auf die Place des Vosges haben, der einmalig in Paris ist!« sagte Maigret, der ganz genau wußte, daß die Fenster auf den Hof hinausgingen.
»Nein! Und die Wohnungen im zweiten Stock, die nach vorn hinausgehen, haben zu niedrige Decken. Das liegt an der Bauweise des Hauses … Sie wissen sicherlich, daß man den ganzen Platz unter Denkmalschutz gestellt hat. Nichts darf verändert werden! Und das ist ein Jammer! Seit Jahren schon wollen wir uns ein Badezimmer einrichten, und …«
Maigret war zum Fenster gegangen. Mit einer beiläufigen Geste schob er den Vorhang, auf dem er Madame Martins Schatten gesehen hatte, zur Seite. Und er blieb unbeweglich stehen, so beeindruckt, daß er sogar vergaß, wie ein höflicher Besuch weiterzuplaudern.
Ihm gegenüber lagen die Büroräume und das Laboratorium der Firma Couchet.
Vom Hof aus waren ihm die Mattglasfenster aufgefallen.
Von hier aus stellte er nun fest, daß nur die unteren Fensterscheiben mattiert waren. Die anderen waren durchsichtig und klar; bestimmt wurden sie zwei- oder dreimal in der Woche geputzt.
An demselben Platz, an dem Couchet ermordet worden war, erkannte man deutlich Monsieur Philippe, der die Post unterzeichnete, die seine Sekretärin ihm Blatt für Blatt vorlegte. Man konnte sogar das Schloß des Geldschrankes erkennen.
Die Verbindungstür zum Laboratorium stand halb offen. Durch die Fenster sah Maigret Frauen in weißen Kitteln in einer Reihe an einem langen Tisch stehen und Glasröhrchen verpacken.
Jede hatte ihre besondere Aufgabe. Die erste nahm die unetikettierten Röhrchen aus einem Korb, und die neunte übergab einem Angestellten versandfertige, sorgfältig verschlossene Faltschachteln mit einem Aufkleber, kurzum, eine Ware, die fix und fertig an die Apotheken ausgeliefert werden konnte.
»Nun biete wenigstens etwas zu trinken an!«
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