Maigret und das Schattenspiel
Ich weiß nicht, ob Sie das tun sollten … Madame Martin ist heute nacht entsetzlich krank geworden. Man hat den Arzt rufen müssen. Ihr Mann ist ganz außer sich …«
Die Angestellten überquerten den Hof und nahmen ihre Arbeit im Laboratorium oder in den Büros auf. An einem Fenster im ersten Stock schüttelte der Diener die Teppiche aus.
Man hörte das Schreien eines Säuglings und den monotonen Singsang einer Kinderfrau.
6
Der Krankenpfleger
P
st! Sie ist eingeschlafen … Aber kommen Sie schon herein …«
Monsieur Martin trat resigniert zurück. Resigniert, jemanden seine unaufgeräumte Wohnung sehen zu lassen. Resigniert, sich halb angezogen zu zeigen, mit hängendem, grünlich schimmerndem Schnurrbart, woran man erkennen konnte, daß er ihn zu färben pflegte.
Er war die ganze Nacht wach geblieben. Er war todmüde und kaum noch ansprechbar.
Er ging auf Zehenspitzen, um die Tür zum Schlafzimmer zu schließen, durch die man das Fußende des Bettes und auf dem Boden daneben eine Waschschüssel sehen konnte.
»Hat die Concierge Ihnen schon gesagt …?«
Er flüsterte, mit ängstlichen Blicken zur Tür. Zugleich drehte er den Gaskocher ab, auf dem er Kaffeewasser heiß gemacht hatte.
»Ein Täßchen?«
»Danke, nein. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Madame Martin geht …«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen!« sagte Martin voller Überzeugung.
Er glaubte wirklich, Maigret sei ohne besondere Absicht gekommen. Er war so durcheinander, daß er zu kritischem Denken nicht mehr fähig war. Und überhaupt: war er denn jemals dazu fähig gewesen?
»Diese Anfälle sind furchtbar … Stört es Sie, wenn ich meinen Kaffee trinke?«
Er wurde verlegen, als ihm bewußt wurde, daß ihm die Hosenträger um die Waden hingen, beeilte sich, seine Kleidung in Ordnung zu bringen, und räumte ein paar Medikamente weg, die auf dem Tisch herumlagen.
»Hat Ihre Frau das häufiger?«
»Nein, vor allem nicht so heftig! Sie ist sehr nervös. Schon als junges Mädchen soll sie jede Woche nervöse Anfälle gehabt haben …«
»Auch jetzt noch?«
Martin blickte ihn wie ein geprügelter Hund an und wagte kaum zu gestehen:
»Ich muß sie mit Samthandschuhen anfassen … Die kleinste Widerrede, und sie braust auf!«
Mit seinem hellgrauen Mantel, seinem sorgfältig gewichsten Schnurrbart und seinen schweinsledernen Handschuhen wirkte er eher lächerlich, wie die Karikatur eines eitlen kleinen Beamten.
Aber jetzt waren seine Schnurrbarthaare verblaßt, die Augen geschwollen. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich zu waschen und zu rasieren. Unter einer alten Anzugjacke trug er noch sein Nachthemd.
Und er war ein armer Schlucker. Maigret bemerkte voller Bestürzung, daß er mindestens fünfundfünfzig Jahre alt war.
»Hat sie sich über irgend etwas geärgert, gestern abend?«
»Nein … nein …«
Er war völlig verstört und blickte ängstlich um sich.
»Hat sie keinen Besuch gehabt? Von ihrem Sohn zum Beispiel?«
»Nein! Außer Ihnen war niemand hier … Anschließend haben wir zu Abend gegessen … Dann …«
»Was?«
»Nichts. Ich weiß nicht. Das kam wie aus heiterem Himmel. Sie ist sehr sensibel. Sie hat soviel Unglück in ihrem Leben durchgemacht!«
Glaubte er wirklich, was er sagte? Maigret hatte den Eindruck, daß Martin sich das alles selbst einzureden versuchte.
»Sie selbst haben also noch gar keine Meinung zu diesem Verbrechen?«
Und Martin ließ die Tasse, die er in der Hand hielt, zu Boden fallen. Hatte auch er es mit den Nerven?
»Warum sollte ich eine Meinung dazu haben? Ich schwöre Ihnen … wenn ich eine hätte, würde ich …«
»Würden Sie was?«
»Ich weiß nicht … Es ist entsetzlich! Und gerade jetzt, wo wir im Amt besonders viel zu tun haben … Ich habe heute morgen nicht einmal die Zeit gefunden, meinen Vorgesetzten zu benachrichtigen …«
Er strich sich mit seiner mageren Hand über die Stirn und machte sich dann daran, die Steingutscherben aufzusammeln. Er suchte lange nach einem Lappen, um den Fußboden aufzuwischen.
»Wenn sie auf mich gehört hätte, wären wir nicht in diesem Haus wohnen geblieben …«
Er hatte Angst, das konnte man sehen. Er war außer sich vor Angst. Aber Angst wovor, Angst vor wem?
»Sie sind ein rechtschaffener Mann, nicht wahr, Monsieur Martin? Und ein ehrlicher Mann …«
»Ich habe zweiunddreißig Dienstjahre, und …«
»Wenn Sie also irgend etwas wüßten, was der Justiz helfen könnte, den
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