Maigret und das Schattenspiel
fügte sich dann aber doch.
Er zog einen Mantel an, machte sich gestikulierend auf den Weg und kam gleich wieder zurück, weil er vergessen hatte, Geld mitzunehmen.
Maigret verfolgte keine besondere Absicht, als er in der Wohnung blieb. Er interessierte sich für nichts, zog keine einzige Schublade auf und warf nicht einmal einen Blick auf einige Briefe, die auf einem Möbelstück lagen.
Er hörte den unregelmäßigen Atem der Kranken, die von Zeit zu Zeit einen langen Seufzer ausstieß und dann unverständliche Silben stammelte.
Als Monsieur Martin zurückkam, stand Maigret noch an derselben Stelle.
»Haben Sie alles bekommen?«
»Ja … Es ist schrecklich … Und ich habe noch nicht einmal im Büro Bescheid gesagt …«
Maigret half ihm, das Eis zu zerstoßen und in den Beutel aus rotem Gummi zu füllen.
»Sie haben doch heute morgen keinen Besuch bekommen?«
»Nein, niemand …«
»Und Sie haben auch keine Post bekommen?«
»Nichts. Ein paar Prospekte …«
Madame Martin hatte Schweißperlen auf der Stirn, und ihre graumelierten Haare klebten an den Schläfen. Ihre Lippen waren farblos. Aber ihre Augen waren immer noch außergewöhnlich lebendig.
Erkannte sie Maigret, der den Eisbeutel über den Kopf der Kranken hielt?
Man konnte es nicht sagen. Aber sie schien ein wenig ruhiger zu sein. Mit dem roten Eisbeutel auf der Stirn lag sie unbeweglich und sah zur Decke.
Der Kommissar zog Monsieur Martin in das Eßzimmer.
»Ich habe Ihnen einige Neuigkeiten mitzuteilen.«
»So?« sagte er und zuckte leicht zusammen.
»Man hat Couchets Testament gefunden. Er hat Ihrer Frau ein Drittel seines Vermögens vermacht.«
»Wie?«
Martin verlor die Fassung, verblüfft und verstört durch diese Nachricht.
»Sie sagen, er hinterläßt uns …?«
»… ein Drittel seines Vermögens! Das wird aber nicht ganz problemlos vonstatten gehen. Seine zweite Frau wird wahrscheinlich dagegen angehen, weil auch sie nur ein Drittel bekommt … Das restliche Drittel geht an eine andere Person, eine gewisse Nine, die letzte Geliebte von Couchet …«
Warum erschien Martin so verzweifelt? Schlimmer noch als verzweifelt: niedergeschmettert! Als wenn man ihm Arme und Beine abgeschnitten hätte! Er stierte auf den Fußboden, unfähig, sich wieder in die Gewalt zu bekommen.
»Die andere Nachricht ist weniger gut … Es handelt sich um Ihren Stiefsohn …«
»Roger?«
»Er hat sich heute morgen umgebracht, indem er sich aus dem Fenster seines Zimmers gestürzt hat, in der Rue Pigalle …«
Er sah, wie Martin sich plötzlich aufbäumte, den Kommissar wütend, ja außer sich anstarrte und ihn anschrie:
»Was erzählen Sie da? Sie wollen, daß ich verrückt werde, ja? Geben Sie doch zu, daß das nur ein Trick ist, um mich zum Sprechen zu bringen!«
»Nicht so laut! Ihre Frau …«
»Das ist mir egal! Sie lügen! Das kann nicht sein …«
Er war nicht wiederzuerkennen. Mit einem Schlag hatte er seine Schüchternheit verloren und alle seine guten Manieren, auf die er so viel Wert legte.
Und es war seltsam, sein verzerrtes Gesicht zu sehen, seine zitternden Lippen, seine Hände, die in der Luft herumfuchtelten.
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Maigret eindringlich, »daß diese beiden Nachrichten amtlich sind.«
»Aber warum sollte er das getan haben? Ich sage Ihnen, das ist zum Verrücktwerden! Und soweit kommt es auch noch! Meine Frau ist auf dem besten Weg, verrückt zu werden! Sie haben sie gesehen! Und wenn das so weitergeht, werde ich auch noch verrückt! Wir werden alle verrückt!«
Sein Blick wanderte krankhaft hin und her. Er hatte jede Kontrolle über sich verloren.
»Ihr Sohn stürzt sich aus dem Fenster! Und das Testament …«
Sein ganzes Gesicht war verzerrt, und plötzlich bekam er einen Weinkrampf, tragisch, komisch und scheußlich zugleich.
»Ich bitte Sie! Beruhigen Sie sich …«
»Ein ganzes Leben … Zweiunddreißig Jahre … Jeden Tag, pünktlich um neun … Niemals einen Tadel … Und das alles, um …«
»Ich bitte Sie! Denken Sie daran, daß Ihre Frau Sie hören kann, und daß sie sehr krank ist!«
»Und ich? Glauben Sie etwa, ich sei nicht krank? Glauben Sie, ich könnte so ein Leben noch lange ertragen?«
Er sah nicht aus wie einer, der leicht weint, und das gab seinen Tränen etwas Ergreifendes.
»Sie können doch nichts dafür, nicht wahr? Es ist doch nur Ihr Stiefsohn … Sie sind nicht verantwortlich …«
Martin sah den Kommissar an, plötzlich ganz ruhig, aber nicht lange.
»Ich
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