Maigret und das Schattenspiel
sie bereit war, die Tür aufzustoßen und um Hilfe zu rufen. Alles ging friedlich aus. Maigret hielt das Handgelenk nur einige Sekunden fest, und als er losließ, rührte der junge Mann sich nicht.
Es folgte ein langes Schweigen, das keiner von beiden zu brechen wagte, wie zwei Kämpfer, die beide zögern, als erster zuzuschlagen.
Es war Roger, der schließlich sagte:
»Sie sind total auf dem falschen Dampfer!«
Er hob einen malvenfarbenen Morgenmantel vom Boden auf und warf ihn seiner Gefährtin zu.
»Können Sie mir sagen, was Sie zu tun gedenken, sobald Ihre zweihundert Francs ausgegeben sind?«
»Was habe ich denn bisher gemacht?«
»Es gibt da einen kleinen Unterschied: Ihr Vater ist tot, und Sie können ihn nicht mehr anpumpen …«
Roger zuckte die Achseln, als wollte er damit ausdrücken, daß sein Gesprächspartner nichts, aber auch gar nichts verstand.
Es lag etwas Undefinierbares in der Luft. Nichts Dramatisches im eigentlichen Sinne. Aber etwas anderes, Beklemmendes. Vielleicht diese unromantische Bohème-Atmosphäre? Vielleicht diese Brieftasche mit den beiden Hundertfrancscheinen?
Oder die Gegenwart dieser verstörten Frau, der bewußt geworden war, daß der morgige Tag nicht so sein würde wie die Tage zuvor und daß sie sich nach jemand anderem würde umsehen müssen?
Nein, das war es nicht! Es war Roger selbst, der einem Angst einflößte. Denn sein Verhalten und seine Gesten standen nicht im Einklang mit seiner Vergangenheit, paßten einfach nicht zu dem, was Maigret von seinem Charakter wußte!
Seine Ruhe … Und die war nicht gespielt! Er war wirklich ruhig, so ruhig, wie jemand, der …
»Geben Sie mir Ihren Revolver!« sagte der Kommissar plötzlich.
Der junge Mann zog ihn aus der Hosentasche und reichte ihn Maigret mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln.
»Sie müssen mir versprechen …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn er sah, daß die Frau jeden Moment vor Entsetzen aufschreien konnte. Sie verstand nicht. Aber sie spürte, daß etwas Furchtbares passierte.
Ironie lag in den Augen Rogers.
Das war beinahe eine Flucht: Maigret wußte nichts mehr zu sagen. Ihm fiel keine passende Geste mehr ein. Er trat den Rückzug an, stieß beim Hinausgehen an den Türrahmen und unterdrückte einen Fluch.
Als er wieder auf der Straße war, hatte er seine gute Laune vom Vormittag verloren. Er fand an diesem Leben überhaupt nichts Possenhaftes mehr. Er hob den Kopf, um nach dem Fenster des Paares zu sehen. Es war geschlossen. Man konnte nichts erkennen.
Er fühlte sich unbehaglich, so wie man sich plötzlich fühlt, wenn man nichts mehr begreift.
Zwei- oder dreimal hatte er in Rogers Augen einen Ausdruck bemerkt, den er nicht zu deuten verstand. Auf jeden Fall waren es nicht die Blicke, auf die er gefaßt war … Es waren Blicke, die mit dem Rest nicht übereinstimmten …
Er kehrte wieder um, weil er vergessen hatte, im Hotel nach Nines neuer Adresse zu fragen.
»Keine Ahnung!« sagte der Portier. »Sie hat ihr Zimmer bezahlt und ist mit ihrem Koffer weggegangen. Sie wollte auch kein Taxi. Wahrscheinlich hat sie sich ein billigeres Hotel hier in der Gegend ausgesucht …«
»Hören Sie … falls … falls irgend etwas bei Ihnen im Haus passiert … ja, irgend etwas Ungewöhnliches … würde ich Sie bitten, mich persönlich bei der Kriminalpolizei zu verständigen: Kommissar Maigret …«
Er machte sich Vorwürfe wegen dieser Äußerung. Was sollte schon passieren? Aber er mußte noch immer an die beiden Hundertfrancscheine in der Brieftasche und an den verängstigten Blick Célines denken.
Eine Viertelstunde später betrat er das Moulin-Bleu durch den Künstlereingang. Der Saal war leer, dunkel, und die Sessel und die Randleisten der Logen waren mit grünem Seidenstoff bezogen.
Auf der Bühne wiederholten sechs Frauen, die trotz ihrer Mäntel fröstelten, immer wieder den gleichen, lächerlich einfachen Schritt, während ein kleiner rundlicher Mann eine Melodie sang und sich dabei heiser brüllte.
»Eins! Zwei! Tra-la-la-la … Nein! Tra-la-la-la, dreimal! Dreimal, zum Teufel!«
Nine war die zweite der Frauen. Sie hatte Maigret erkannt, der in der Nähe einer Säule stand. Der Mann hatte ihn auch gesehen, aber er kümmerte sich nicht um ihn.
»Eins! Zwei! Tra-la-la-la …«
Das ging eine Viertelstunde lang so weiter. Es war kälter als draußen, und Maigret hatte eiskalte Füße. Schließlich wischte der kleine Mann sich die Stirn und rief seiner Truppe statt eines
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