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Maigret und das Verbrechen in Holland

Maigret und das Verbrechen in Holland

Titel: Maigret und das Verbrechen in Holland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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war sehr traurig. Ich will versuchen, morgen abend unter dem Vorwand wegzukommen, daß ich ein norwegisches Schiff im Hafen ansehen will.
    Ich nehme Dich in die Arme, kleine Beetje.
     
    Madame Popinga schaute sie alle der Reihe nach an, müde, mit Tränen in den Augen. Ihre Hand glitt zu dem anderen Stoß, den sie heruntergebracht hatte, und der Bauer zuckte zusammen. Sie griff einen Brief heraus.
     
    Lieber Conrad,
    den ich liebe, eine gute Nachricht: Papa hat zu meinem Geburtstag noch einmal tausend Gulden auf mein Ban k konto eingezahlt. Das reicht, um nach Amerika zu gehen, denn ich habe in der Zeitung die Schiffstarife nachgesehen. Und wir können doch dritter Klasse fahren!
    Aber warum hast Du es nicht eiliger? Ich sterbe. Holland erstickt mich. Ich habe das Gefühl, die Leute in Delfzijl schauen mich geringschätzig an.
    Und doch bin ich so glücklich und so stolz, einem Mann wie Dir zu gehören!
    Wir müssen unbedingt vor den Ferien weg, denn Papa will, daß ich einen Monat in der Schweiz verbringe, und ich will nicht. Dann könnten wir erst wieder im Winter unseren großen Plan verwirklichen.
    Ich habe Englischbücher gekauft. Ich kann schon viele Sätze.
    Schnell! Schnell! Dann haben wir das schönste Leben! Nicht wahr? Wir können nicht mehr hier bleiben. Vor a l lem jetzt! Ich glaube, Madame Popinga zeigt mir die kalte Schulter. Und ich habe immer Angst vor Cornelius, der mir den Hof macht und den ich nicht loswerden kann. Er ist ein lieber, guterzogener Junge, aber so dumm!
    Ganz abgesehen davon, daß er kein Mann ist, Conrad, ein Mann wie Du, der überall herumgekommen ist und alles weiß …
    Erinnerst Du Dich, daß ich Dir vor einem Jahr aufla u erte und Du mich nicht einmal ansahst?
    Und jetzt bekomme ich vielleicht sogar ein Kind von Dir … Jedenfalls könnte ich es!
    Aber warum bist Du so zurückhaltend? Liebst Du mich nicht mehr?
     
    Der Brief war noch nicht zu Ende, aber Madame Popi n ga versagte die Stimme und sie schwieg. Einen Auge n blick wühlten ihre Hände in dem Haufen Briefe. Sie suchte etwas.
    Sie las noch einen Satz aus der Mitte eines Briefes heraus:
     
    … und ich glaube allmählich, daß Du Deine Frau mehr liebst als mich; ich bin allmählich eifersüchtig auf sie, hasse sie. Wenn es nicht so ist, warum weigerst Du Dich dann, mit mir wegzugehen? …
     
    Der Bauer konnte die Briefe nicht verstehen, aber er hörte so angespannt zu, daß man hätte schwören kö n nen, er errate den Inhalt. Madame Popinga schluckte, nahm einen letzten Brief, las mit noch leiserer Stimme:
     
    … In der Stadt habe ich gehört, daß Cornelius mehr in Madame Popinga als in mich verliebt sei und daß die be i den sich sehr gut verstünden … Wenn das wahr wäre! Dann könnten wir beruhigt sein, und Du bräuchtest keine Gewissensbisse mehr zu haben …
    Das Papier glitt ihr aus den Händen, fiel langsam auf den Teppich vor Anys Füße, die es starr anblickte.
    Und wieder herrschte Schweigen. Madame Popinga weinte nicht. Aber durch die Art, wie sie ihren Schmerz zu verbergen suchte und unter unglaublicher Anstre n gung ihre Würde bewahrte, wirkte sie tragisch, und auch durch ihre unerschütterliche Liebe.
    Sie stand da, um Conrad zu verteidigen! Sie wartete auf einen Angriff. Sie war bereit zu kämpfen, wenn es sein mußte.
    »Wann haben Sie diese Briefe gefunden?« fragte Ma i gret verlegen.
    »Am Tag nach …«
    Ihre Stimme erstickte. Sie öffnete den Mund und rang nach Luft. Ihre Lider schwollen an.
    »… nach Conrads …«
    »Ja!«
    Er hatte verstanden. Er schaute sie teilnahmsvoll an. Sie war nicht hübsch, doch hatte sie ein regelmäßiges Gesicht. Sie hatte keine der Unebenmäßigkeiten, die Any so häßlich machten.
    Sie war groß und kräftig, aber nicht korpulent. Dic h tes schönes Haar umrahmte ihr etwas rosiges, typisch holländisches Gesicht.
    Aber hätte er es nicht lieber gehabt, wenn sie häßlich gewesen wäre? Diese gleichmäßigen Züge, dieser ve r nünftige, ruhige Gesichtsausdruck verbreitete etwas wie eine große Langeweile.
    Selbst ihr Lächeln mußte vernünftig und gemessen, ihre Freude vernünftig und zurückhaltend sein!
    Und mit sechs Jahren war sie sicher schon ein ve r nünftiges Mädchen, mit sechzehn sicher genauso wie heute gewesen!
    Eine von diesen Frauen, die die geborenen Tanten, Schwestern, Krankenschwestern sind, oder Witwen, we l che Vorsitzende von Wohltätigkeitsvereinen sind.
    Conrad war nicht da, aber Maigret hatte ihn noch nie so lebendig vor sich wie

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