Maigret und das Verbrechen in Holland
»Wir hatten schon Gelegenheit, einander zu begegnen, Monsieur und ich.«
Der andere versuchte an Maigrets Ton und G e sichtsausdruck zu erraten, was Maigret sagte.
Und der Kommissar warf einen Blick auf die Briefe, von denen einer mit »Conrad« unterschrieben war.
Die Peinlichkeit der Situation war nicht mehr zu überbieten. Der Bauer holte seine Mütze von einem Stuhl, konnte sich aber nicht entschließen zu gehen.
»Hat er Ihnen die Briefe gebracht, die Ihr Schwager seiner Tochter geschrieben hat?«
»Woher wissen Sie das?«
Zum Teufel! Die Szene ließ sich aus der gespannten, drückenden Atmosphäre nur zu leicht rekonstruieren! Liewens, der kam und den Atem anhielt, um seine Wut zu beherrschen. Liewens, der in das Wohnzimmer g e führt und von zwei verschreckten Frauen begrüßt wurde und der plötzlich redete und die Briefe auf den Tisch warf!
Madame Popinga, die, außer sich, ihr Gesicht in den Händen verbarg; vielleicht weigerte sie sich, diesen B e weisstücken zu glauben, oder war so erschüttert, daß sie nichts sagen konnte.
Und Any, die versuchte, dem Mann die Stirn zu bi e ten, indem sie redete …
In diesem Augenblick hatte er an die Tür geklopft, waren alle in Schweigen erstarrt und hatte Any geöffnet.
Maigret täuschte sich indessen bei der Rekonstruktion des Ablaufs im Charakter einer Person. Denn Madame Popinga, die er niedergeschlagen von dieser Enthüllung, gebrochen und wehrlos in der Küche vermutete, kam etwas später wieder herein mit einer Ruhe, wie man sie nur in der äußersten Erregung besitzt.
Und langsam legte auch sie Briefe auf den Tisch. Sie warf sie nicht hin, sie legte sie hin. Sie sah den Bauern an, dann den Kommissar. Ein paarmal machte sie den Mund auf, bevor sie ein Wort herausbekam; dann sagte sie:
»Man soll darüber urteilen … Jemand soll das lesen …«
Im selben Augenblick wurde Liewens rot.
Er war zu sehr Holländer, als daß er sich gleich auf die Briefe gestürzt hätte, aber sie zogen ihn magnetisch an.
Die Schrift einer Frau … Bläuliches Papier … Offe n sichtlich Briefe von Beetje.
Etwas fiel auf: das Mißverhältnis zwischen beiden Stapeln. Es waren vielleicht zehn Briefe von Popinga mit nur je einem Bogen, auf dem meistens vier oder fünf Zeilen standen.
Dagegen dreißig lange, ausführliche Briefe von Beetje!
Conrad war tot. Es blieben diese beiden ungleichen Stöße und die Holzhaufen, Komplizen der Rendezvous am Amsteldiep.
»Sie sollten sich beruhigen!« sagte Maigret. »Und vie l leicht ist es besser, diese Briefe in aller Ruhe zu lesen.«
Der Bauer schaute ihn mit scharfem Blick an und hatte wohl verstanden, denn er ging unwillkürlich einen Schritt auf den Tisch zu.
Maigret stützte sich mit beiden Armen auf. Er griff wahllos einen Brief von Popinga heraus.
»Hätten Sie die Liebenswürdigkeit, ihn zu übersetzen, Mademoiselle Any?«
Aber das junge Mädchen schien ihn nicht gehört zu haben. Sie schaute auf das Geschriebene und sagte nichts. Ihre Schwester nahm ihr den Brief aus der Hand, ernst und gefaßt.
»Das ist in der Schule geschrieben worden«, sagte sie. »Ohne Datum. Oben steht ›sechs Uhr‹.« Dann:
Meine kleine Beetje,
es ist besser, wenn Du heute abend nicht kommst, denn der Direktor kommt auf eine Tasse Tee zu uns.
Bis morgen. Kuß.
Sie schaute in stiller Herausforderung um sich. Sie nahm einen anderen Brief. Sie las langsam:
Kleine, hübsche Beetje,
beruhige Dich. Und denk daran, das Leben ist noch lang. Ich habe viel Arbeit mit den Prüfungen in der dritten Klasse. Ich kann heute abend nicht kommen.
Warum sagst Du immer wieder, ich würde Dich nicht lieben? Ich kann doch die Schule nicht aufgeben. Was sol l ten wir dann anfangen?
Bleibe ganz ruhig. Wir haben viel Zeit. Ich umarme Dich zärtlich.
Und obwohl Maigret dies für ausreichend zu halten schien, nahm Madame Popinga noch einen Brief.
»Diesen hier noch, vielleicht ist es der letzte.«
Meine Beetje,
es ist unmöglich! Ich flehe Dich an, sei vernünftig. Du weißt genau, daß ich kein Geld habe und es lange dauert, bis man im Ausland eine Stellung gefunden hat!
Du mußt vernünftiger sein und Dich nicht so aufregen. Und vor allem hab Vertrauen!
Fürchte nichts! Wenn das eintreten würde, was Du b e fürchtest, würde ich dazu stehen!
Ich bin nervös, weil ich im Augenblick viel Arbeit habe und weil ich nicht gut arbeiten kann, wenn ich an Dich denke. Der Direktor hat mir gegenüber gestern eine Ande u tung gemacht. Ich
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