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Maigret und das Verbrechen in Holland

Maigret und das Verbrechen in Holland

Titel: Maigret und das Verbrechen in Holland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Kommende stand in den Gesichtern nicht einmal Unr u he oder Schmerz. Es war etwas anderes! Stumpfe, nicht s sagende Blicke. Müde, verstimmte Gesichter.
    Und die Beleuchtung machte die Haut grau. Selbst Beetje hatte nichts Aufregendes mehr an sich.
    Es war ohne Glanz, ohne Größe. Es war erbärmlich oder lächerlich. Draußen hatten sich Grüppchen gebi l det, die stumm herumstanden, denn am Spätnachmittag hatte sich herumgesprochen, daß irgend etwas gesch e hen würde. Aber sicher hatte sich keiner ein so wenig aufregendes Schauspiel vorgestellt.
    Maigret ging zuerst auf Madame Popinga zu.
    »Würden Sie sich bitte auf den gleichen Platz wie an jenem Abend setzen?« sagte er.
    Vor ein paar Stunden, bei sich zu Hause, hatte sie fe i erlich ausgesehen. Das war vorbei. Sie schien älter. In ihrem schlecht geschnittenen Kostüm wirkte eine Schu l ter breiter als die andere, und sie hatte große Füße. Und auch eine Narbe am Hals unterhalb des Ohrs.
    Bei Any war es noch schlimmer, denn ihr Gesicht wirkte so asymmetrisch wie noch nie. Ihre Aufmachung war albern, alles war zu eng, ihr Hut zeugte von schlec h tem Geschmack.
    Madame Popinga setzte sich in die Mitte der ersten Reihe auf den Ehrenplatz. An jenem Abend, mit all den Lichtern, mit ganz Delfzijl hinter sich, war sie sicher ganz rosig gewesen vor Stolz und Freude.
    »Wer saß neben Ihnen?«
    »Der Direktor der Marineschule.«
    »Auf der anderen Seite?«
    »Monsieur Wienands.«
    Er wurde gebeten, seinen Platz einzunehmen. Er hatte seinen Mantel nicht ausgezogen. Er setzte sich verlegen und schaute woanders hin.
    »Madame Wienands?«
    »Ganz außen in der Reihe, wegen der Kinder.«
    »Beetje?«
    Diese setzte sich von allein auf ihren Platz, ließ einen Stuhl frei zwischen sich und Any: den Stuhl von Conrad Popinga.
    Pijpekamp stand in einiger Entfernung, war verwirrt, verblüfft, fühlte sich unbehaglich und war unruhig.
    Jean Duclos wartete, bis er an die Reihe kam.
    »Gehen Sie aufs Podium!« sagte Maigret zu ihm.
    Vielleicht war er derjenige, der am meisten an Au s strahlung verlor. Er war dürr, schlecht gekleidet. Man konnte sich nur mit Mühe vorstellen, daß sich an jenem Abend hundert Personen aufgemacht hatten, um ihn zu hören.
    Die Stille war so beklemmend wie dieses Licht, das grell und schwach zugleich von der hohen Decke herunterfiel. Hinten im Saal hustete der Baes ein paarmal und gab damit dem allgemeinen Unbehagen Ausdruck.
    Maigret selber verriet auch eine gewisse Unruhe. Er überwachte seine Inszenierung. Sein schwerer Blick glitt von einer Person zur anderen, hielt sich bei kleinen D e tails auf, bei der Haltung Beetjes, beim zu langen Rock Anys, bei den unsauberen Fingernägeln Duclos’, der ganz allein vor seinem Rednertisch saß und Haltung zu bewahren versuchte.
    »Wie lange haben Sie gesprochen?«
    »Eine Dreiviertelstunde.«
    »Haben Sie Ihren Vortrag abgelesen?«
    »Aber nein! Ich hielt ihn zum zwanzigsten Mal. Ich brauche nicht einmal mehr meine Notizen.«
    »Dann haben Sie also in den Saal geschaut.«
    Und er setzte sich einen Augenblick zwischen Beetje und Any. Die Stühle standen ziemlich eng nebeneina n der. Sein Knie berührte Beetjes Knie.
    »Wann war die Veranstaltung zu Ende?«
    »Kurz vor neun Uhr. Denn vorher hatte ein junges Mädchen Klavier gespielt.«
    Dieses Klavier stand noch offen da mit einer Polonaise von Chopin auf dem Notenständer. Madame Popinga b e gann an ihrem Taschentuch herumzunagen. Oosting r u morte im Hintergrund. Seine Füße bewegten sich anda u ernd über den mit Sägespänen bedeckten Boden. Es war kurz nach acht Uhr. Maigret stand auf, ging hin und her.
    »Würden Sie mir bitte kurz den Inhalt Ihres Vortrags zusammenfassen, Monsieur Duclos?«
    Aber Duclos war nicht imstande, etwas zu sagen. Oder vielmehr wollte er seinen Vortrag wortwörtlich bringen. Nach einigem Hüsteln murmelte er:
    »Ich möchte der intelligenten Bevölkerung Delfzijls nicht zu nahe treten, wenn …«
    »Entschuldigen Sie! Sie sprachen von der Kriminal i tät! In welchem Sinn?«
    »Von der Verantwortlichkeit der Verbrecher.«
    »Und Sie behaupten?«
    »Daß unsere Gesellschaft verantwortlich ist für die Vergehen, die in ihr begangen werden und die man Verbrechen nennt. Wir haben das Leben zum optimalen Wohl aller organisiert. Wir haben soziale Klassen eing e richtet, und es ist notwendig, daß jedes Individuum zu einer gehört.«
    Er schaute unentwegt auf den grünen Teppich, wä h rend er redete. Seine Stimme klang

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