Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Schweigen. Maigrets Blick fiel immer wieder auf Martineau.
Plötzlich überstürzte Schritte draußen vor dem Haus, dann ein drängendes Klopfen. Lucas zögerte nur einen Augenblick, ging hinaus und machte die Tür auf. Jemand kam hereingerannt: Julie, völlig außer Atem, begann keuchend:
»Kommissar! … Mein … mein Bruder …«
Und im gleichen Augenblick verstummte sie, stand sprachlos vor Grand-Louis, der sich erhob, sich in seiner ganzen Größe vor ihr aufbaute.
»Ihr Bruder?« beharrte Maigret.
»Nichts … ich …«
Sie versuchte zu lächeln, kam langsam wieder zu Atem. Sie trat zurück, stieß dabei gegen Martineau, wandte sich zu ihm um. Sie schien ihn nicht zu kennen und sie stammelte:
»Entschuldigen Sie, Monsieur.«
Der Wind blies durch die Haustür, die zu schließen man vergessen hatte.
9
Verschwörung des Schweigens
I
n stockenden Sätzen erklärte Julie:
»Ich war ganz allein im Haus. Ich hatte Angst. Ich hatte mich in Kleidern schlafen gelegt. Jemand hat laut an die Tür geklopft. Es war Lannec, der Kapitän meines Bruders.«
»Ist die ›Saint-Michel‹ zurück?«
»Sie lag in der Schleuse, als ich vorbeikam. Lannec wollte meinen Bruder sofort sprechen. Anscheinend hat er es eilig, wegzukommen. Ich habe ihm gesagt, daß Louis noch nicht einmal zu mir gekommen sei. Und als Lannec dann unverständlich vor sich hinbrummte, bekam ich es mit der Angst.«
»Warum sind Sie hierher gekommen?« wollte Maigret wissen.
»Ich habe ihn gefragt, ob Louis in Gefahr sei. Lannec sagte ja, daß es vielleicht schon zu spät sei … Da habe ich mich im Hafen erkundigt, und man hat mir gesagt, daß Sie hier sind.«
Grand-Louis sah mit gelangweilter Miene zu Boden, zuckte die Schultern wie um deutlich zu machen: Die Frauen regen sich aber auch wegen nichts auf!
»Sind Sie in Gefahr?« fragte Maigret ihn und versuchte, ihm in die Augen zu sehen.
Da lachte Grand-Louis, lachte laut, und es klang noch idiotischer als sein sonstiges Lachen.
»Warum hat sich Lannec Sorgen gemacht?«
»Weiß ich es?«
Und Maigret blickte in die Versammlung, sagte nachdenklich und mit leisem Zorn:
»Gut! Sie wissen nichts! Und alle sind Sie in derselben Lage. Sie, Herr Bürgermeister, kennen Monsieur Martineau nicht und Sie wissen auch nicht, warum Grand-Louis, der von Ihnen wie ein Freund empfangen wird, mit Ihnen Dame spielt und an Ihrem Tisch ißt, plötzlich anfängt, Ihr Gesicht mit Faustschlägen zu bearbeiten.«
Keine Antwort.
»Was sage ich! Sie akzeptieren diese Behandlung, finden es ganz in Ordnung so! Sie verteidigen sich nicht! Sie weigern sich, Anzeige zu erstatten! Wollen nicht einmal, daß Grand-Louis vor die Tür gesetzt wird!«
Und zu Grand-Louis:
»Und Sie, Sie wissen auch nichts! Sie schlafen an Bord des Schiffsbaggers, wissen aber nicht, wer da noch an Bord ist. Sie werden hier freundlich aufgenommen und Sie bezahlen für die Gastfreundschaft mit einer tüchtigen Tracht Prügel, die Sie dem Hausherrn offerieren! Monsieur Martineau haben Sie nie gesehen!«
Kein Aufhorchen. Nur starre Gesichter, auf den Boden geheftete Blicke.
»Und Sie, Monsieur Martineau, wissen auch nicht mehr. Wissen Sie wenigstens, wie Sie von Norwegen nach Frankreich gekommen sind? … Nein? … Sie ziehen eine Koje auf einem verlassenen Schiffsbagger einem Hotelbett vor. Sie radeln davon, kaufen sich ein Auto, um nach Paris zu fahren. Aber Sie wissen nichts! Sie kennen weder Monsieur Grandmaison noch Louis noch Kapitän Joris! … Und Sie, Julie, wissen selbstverständlich noch weniger als die anderen …«
Entmutigt sah er zu Lucas hin. Der verstand ihn gut. Es war nicht daran zu denken, sie alle festzunehmen. Jedem konnte man seltsames Verhalten, Lügen, Widersprüchlichkeit vorhalten! Aber juristisch belangen konnte man keinen!
Die Wanduhr zeigte elf Uhr abends. Maigret klopfte seine Pfeife im Kamin aus und fuhr ärgerlich fort:
»Ich sehe mich gezwungen, Sie zu bitten, und zwar Sie alle, sich der Polizei zur Verfügung zu halten. Bestimmt werde ich Sie trotz Ihrer Unwissenheit um weitere Auskünfte bitten müssen … Herr Bürgermeister, ich nehme nicht an, daß Sie die Absicht haben, Ouistreham zu verlassen?«
»Nein.«
»Ich danke Ihnen … Sie, Monsieur Martineau, Sie könnten sich im Hôtel de l’Univers ein Zimmer nehmen, ich selbst wohne auch da …«
Der Norweger verneigte sich.
»Bring den Herrn ins Univers, Lucas!«
Und zu Grand-Louis und Julie gewandt:
»Ihr beide, Ihr kommt mit mir!«
Er trat
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