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Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Titel: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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erfüllte die Luft.
    »Kapitän Joris …«, wiederholte Maigret mit träumerischer Stimme. »Und nun sitze ich an seinem Platz, in seinem Sessel. Sein Korbsessel, der bei jeder Bewegung ächzt … Wäre er noch am Leben, würde er jetzt vom Hafen heimkehren und wahrscheinlich auch um ein Glas Schnaps bitten, um sich aufzuwärmen. Nicht wahr, Julie?«
    Sie sah ihn groß an und wandte den Kopf wieder ab.
    »Er würde nicht gleich nach oben und zu Bett gehen … Ich wette, er würde seine Schuhe ausziehen, Sie würden ihm seine Pantoffeln bringen … Er würde zu Ihnen sagen: Sauwetter … Und da will die ›Saint-Michel‹ noch rausfahren! Gott steh ihr bei!«
    »Woher kennen Sie das?«
    »Was?«
    »Dieser Ausdruck: Gott steh ihr bei. Genau das sagte er immer.«
    Sie war gerührt, sah Maigret fast dankbar an.
    Grand-Louis ließ sich davon nicht rühren.
    »Er wird es nicht mehr sagen, so! Er war glücklich, hatte ein hübsches Haus, einen Garten voller Blumen, die er liebte, Ersparnisse … Alle scheinen ihn gern gehabt zu haben … Und doch gibt es jemand, der dem allem ein jähes Ende gesetzt hat … mit einem bißchen weißen Pulver in einem Glas Wasser …«
    Julies Gesicht hatte sich verzerrt. Sie wollte nicht weinen, kämpfte heftig dagegen an.
    »Ein bißchen weißes Pulver, und aus war es! Und der, der das getan hat, ist womöglich noch glücklich, weil niemand weiß, wer er ist! Wahrscheinlich war er vorhin unter uns!«
    »Hören Sie auf!« flehte Julie und faltete die Hände. Sie konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten.
    Aber der Kommissar wußte, was er wollte. Mit leiser Stimme sprach er weiter, langsam, Wort für Wort betonend. Und er brauchte keine große Komödie zu spielen. Er ließ sich einfach mitreißen. Er empfand die Schwermütigkeit dieser Stunde, und auch er sah im Geiste die untersetzte Gestalt des Hafenmeisters vor sich.
    »In seinem Tod hat er nur noch einen Freund … Mich. Einen Mann, der ganz allein darum kämpft, die Wahrheit herauszufinden, zu verhindern, daß Joris’ Mörder glücklich ist …«
    Julie schluchzte. Aller Widerstand in ihr war gebrochen, und Maigret fuhr fort:
    »Aber alle, die den Toten kannten, schweigen, alle lügen, so daß man fast glauben möchte, sie hätten sich alle etwas vorzuwerfen, seien alle mitschuldig!«
    »Das ist nicht wahr!« schrie sie.
    Und Grand-Louis, dem zusehends unbehaglicher wurde, goß sich zu trinken ein und füllte auch gleich das Glas des Kommissars.
    »Grand-Louis ist der erste, der schweigt.«
    Julie sah durch einen Schleier von Tränen auf ihren Bruder, als sei sie von der Wahrheit dieser Worte betroffen.
    »Er weiß etwas … Er weiß sogar viel. Hat er Angst vor dem Mörder? Hat er etwas zu befürchten?«
    »Louis!« schrie sie ihn an.
    Aber Louis schaute ungerührt weg.
    »Sag, daß es nicht stimmt, Louis! … Hörst du?«
    »Ich weiß nicht, was der Kommissar …«
    Er konnte nicht mehr still sitzen und stand auf.
    »Louis lügt schlimmer als die anderen! Er behauptet, den Norweger nicht zu kennen, aber er kennt ihn! Er behauptet, nicht mit dem Bürgermeister zu verkehren, aber ich treffe ihn in dessen Haus, wie er gerade dabei ist, ihn mit den Fäusten zu bearbeiten …«
    Ein vages Lächeln huschte über die Lippen des ehemaligen Sträflings. Julie aber dachte anders darüber.
    »Ist das wahr, Louis?«
    Und als er nicht antwortete, packte sie ihn am Arm.
    »Warum sagst du bloß nicht die Wahrheit? Du hast nichts getan, ich bin sicher!«
    Er machte sich von ihr los, verwirrt, vielleicht schon nachgebend. Maigret ließ ihm nicht die Zeit, sich zu fassen.
    »In diesem ganzen Lügengebäude bedürfte es wahrscheinlich nur eines ganz kleinen Stücks Wahrheit, eines winzig kleinen Tips, um es zum Einstürzen zu bringen.«
    Aber nichts! Louis beachtete die flehenden Blicke seiner Schwester nicht, schüttelte sich wie ein Riese unter der wütenden Marter seiner zwerghaften Feinde.
    »Ich weiß nichts …«
    Und Julie, streng und bereits mißtrauisch:
    »Warum sagst du nichts?«
    »Ich weiß nichts.«
    »Der Kommissar sagt …«
    »Ich weiß nichts.«
    »Hör zu, Louis! Ich habe dir immer vertraut, das weißt du. Und ich habe mich für dich eingesetzt, sogar bei Kapitän Joris …«
    Sie errötete über diesen unseligen Satz und sprach schnell weiter:
    »Du mußt die Wahrheit sagen. Ich halte das nicht mehr aus! Ich bleibe auch nicht länger allein in diesem Haus!«
    »Sei still«, seufzte er.
    »Was soll er Ihnen eigentlich sagen,

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