Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
hinaus, entließ die beiden Gendarmen, die noch vor dem Haus warteten, und sah Lucas mit Martineau in Richtung des Hotels gehen, wo der Wirt wohl schon darauf wartete, zu Bett gehen zu können.
Julie war ohne Mantel aus dem Haus gegangen, und als ihr Bruder sah, daß sie fror, zog er seine Jacke aus und legte sie ihr, obwohl sie sich sträubte, über die Schultern.
Es war schwierig, sich bei dem Sturm zu unterhalten. Beim Gehen mußte man sich nach vorn beugen, es pfiff einem ständig um die Ohren, ein eisiger Nordostwind blies einem ins Gesicht, so daß die Augen schmerzten.
Am Hafen sah man die erleuchtete Kneipe, in der sich die Arbeiter zwischen zwei Schleusengängen mit dampfendem Grog aufwärmten. Die Gesichter wandten sich dem Trio zu, das sich durch den Sturm kämpfte und die Brücke betrat.
»Ist das die ›Saint-Michel‹?« erkundigte sich Maigret.
Ein Segelschiff fuhr aus der Schleuse in den Vorhafen. Aber es sah viel höher aus als der Schoner, den Maigret in Erinnerung hatte.
»Keine Ladung drauf!« brummte der Matrose.
Das hieß, daß die ›Saint-Michel‹ ihre Ladung in Caen gelöscht hatte und nun leer fuhr, um anderswo neue Fracht aufzunehmen.
Sie waren kurz vor Joris’ kleinem Haus, als plötzlich ein Schatten auftauchte. Man mußte sich dicht voreinander stellen, um sich zu erkennen. Eine nicht sehr kräftige Stimme sagte zu Grand-Louis:
»Ach, da bist du ja! … Beeil dich, wir machen klar Schiff!«
Maigret musterte den kleinen bretonischen Kapitän und blickte dann aufs Meer hinaus, das mit anhaltendem Getöse über die Mole hereinbrach. Der Himmel war aufgewühlt, man sah dunkle Wolkenfetzen treiben.
Die ›Saint-Michel‹ lag festgemacht im Finstern. Nur ein schwacher Lichtschein von einer auf Deck abgestellten Lampe drang herüber.
»Wollen Sie ausfahren?« fragte der Kommissar.
»Gewiß!«
»Wohin?«
»Wein laden in La Rochelle.«
»Brauchen Sie Grand-Louis unbedingt?«
»Glauben Sie vielleicht, man könnte bei diesem Wetter mit nur zwei Mann fahren?«
Julie fror. Von einem Bein auf das andere tretend, stand sie da und hörte zu. Ihr Bruder blickte abwechselnd zu Maigret und zu dem Schiff, dessen Masten ächzten.
»Warten Sie an Bord auf mich«, sagte der Kommissar zu Lannec.
»Aber …«
»Was?«
»In zwei Stunden ist das Wasser so niedrig, daß wir nicht mehr hinausfahren können.«
Eine vage Unruhe spiegelte sich in seinem Gesicht. Es war offensichtlich, daß ihm nicht ganz wohl in seiner Haut war. Nervös trat er von einem Bein auf das andere, und sein Blick wanderte ruhelos umher.
»Schließlich muß ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen!«
Er und Louis tauschten mehrere Blicke, und Maigret war sich über deren Bedeutung nur allzu klar. Es gibt eben solche Augenblicke der Intuition, wo man schneller kapiert als sonst.
Der kleine Kapitän war nervös, schien sagen zu wollen:
»Das Schiff ist ganz in der Nähe … Nur mit einer Trosse festgemacht … Einen Kinnhaken für den Polizisten, und wir können …«
Grand-Louis zögerte, sah seine Schwester traurig an, schüttelte den Kopf.
»Warten Sie an Bord auf mich«, wiederholte Maigret.
»Aber …«
Er antwortete nicht und machte den beiden anderen ein Zeichen, ihm in das Haus zu folgen.
Es war das erstemal, daß Maigret Bruder und Schwester zusammen sah.
Sie waren alle drei in Kapitän Joris’ Küche, in der es wohlig warm war. Der Herd zog so heftig, daß das Knistern sich manchmal nach einer kleinen Detonation anhörte.
»Bring uns was zu trinken«, sagte der Kommissar zu Julie, die zum Schrank ging, eine Karaffe mit Schnaps und verzierte Gläser herausnahm.
Er störte hier, er spürte es. Julie hätte viel darum gegeben, mit ihrem Bruder allein sein zu können. Dieser folgte mit den Augen jeder ihrer Bewegungen, und man erriet, daß er eine große Zuneigung für sie hegte und daß sie ihn, den Tolpatsch, irgendwie rührte.
Als perfekte Hausfrau, die sie war, blieb Julie, nachdem sie die beiden Männer bedient hatte, stehen und heizte ihren Herd nach.
»In Erinnerung an Kapitän Joris«, sagte Maigret und hob sein Glas.
Darauf folgte ein langes Schweigen. Maigret war das gerade recht. Er wollte jedem die Zeit geben, die warme und friedliche Atmosphäre der Küche ganz in sich aufzunehmen.
Bald klang das Knistern des Feuers im Herd, die Pendeluhr tickte. Nach dem Sturm draußen stieg nun das Blut in die Wangen, und die Augen begannen zu glänzen. Der leicht säuerliche Geruch des Calvados
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