Maigret und der gelbe Hund
Bürgermeister in der Bibliothek.«
Sie war tatsächlich dort. Obgleich sie etwa vierzig Jahre alt war, wirkte sie an der Seite ihres Gatten, der fünfundsechzig war, sehr jung. Sie nickte dem Kommissar zu.
»Nun?«
Als Mann von Welt küßte ihr der Bürgermeister die Hand, die er festhielt, während er sagte:
»Beruhigen Sie sich! Ein Zöllner wurde leicht verletzt. Und ich hoffe, daß nach der Unterredung, die Kommissar Maigret und ich nun haben werden, dieser unerträgliche Alptraum ein Ende finden wird.«
Unter einem Knistern von Seide ging sie hinaus. Ein blauer, samtener Türvorhang fiel. Die Bibliothek war sehr geräumig, die Wände mit edlem Holz getäfelt, die Decke von hervortretenden Balken durchzogen, wie auf englischen Herrensitzen.
Wertvolle Bände waren zu sehen, die kostbarsten jedoch mochten sich wohl in einem geschlossenen Bücherschrank befinden, der eine ganze Wandfläche einnahm.
Das Ganze war wirklich luxuriös, ohne geschmackliche Mängel, der vollkommene Komfort. Obwohl eine Zentralheizung vorhanden war, brannten Holzscheite in einem riesigen Kamin.
Kein Vergleich mit dem falschen Pomp der Villa des Arztes. Der Bürgermeister suchte unter den Zigarrenkistchen eine heraus und reichte es Maigret.
»Danke! Wenn Sie erlauben, rauche ich meine Pfeife.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz. Möchten Sie einen Whisky?«
Er drückte auf einen Knopf und zündete sich eine Zigarre an. Der Diener kam, um ihre Wünsche entgegenzunehmen. Und Maigret wirkte, vielleicht mit Absicht, unbeholfen, wie ein Kleinbürger, der in einem hochherrschaftlichen Anwesen empfangen wird. Seine Züge wirkten plumper, sein Blick unsicher.
Sein Gastgeber wartete, bis der Diener hinausgegangen war.
»Sie müssen begreifen, Kommissar, daß diese Serie von Verbrechen unmöglich weitergehen kann. Sie sind nun … na, Sie sind nun fünf Tage hier … Und seit fünf Tagen …«
Maigret zog sein unscheinbares Notizbuch aus der Tasche hervor, das in Wachstuch eingebunden war.
»Erlauben Sie?« fiel er dem Bürgermeister ins Wort. »Sie reden von einer Serie von Verbrechen. Nun, ich muß feststellen, daß alle Opfer am Leben sind, außer einem. Ein einziger Todesfall: nämlich der von Monsieur Le Pommeret. Was den Zöllner betrifft, so werden Sie zugeben, daß jemand, der ihm hätte das Leben nehmen wollen, nicht auf das Bein gezielt hätte. Sie kennen den Ort, wo der Schuß abgegeben wurde. Der Angreifer war unsichtbar. Er hat sich viel Zeit nehmen können. Es sei denn, er hätte noch nie einen Revolver in der Hand gehalten …«
Der Bürgermeister sah ihn erstaunt an, griff nach seinem Glas und sagte:
»Sie wollen also behaupten …?«
»Daß man ihn am Bein hatte treffen wollen. Zumindest solange, wie nicht das Gegenteil bewiesen ist.«
»Hat man auch Mostaguen nur am Bein treffen wollen?«
Die Ironie war beißend. Die Nasenflügel des alten Mannes bebten. Er wollte höflich sein, die Ruhe bewahren, weil er zu Hause war. Aber ein unangenehmes Zischen lag in seiner Stimme.
Mit der Miene eines gewissenhaften Beamten, der einem Vorgesetzten Rechenschaft ablegt, fuhr Maigret fort:
»Wenn Sie einverstanden sind, so werden wir meine Notizen der Reihe nach durchgehen … Ich lese unter dem Datum vom Freitag, dem 7. November: Eine Kugel wird durch den Briefkasten eines unbewohnten Hauses auf Monsieur Mostaguen abgefeuert. Sie werden zunächst feststellen, daß niemand wissen konnte, daß Monsieur Mostaguen zu einem gegebenen Zeitpunkt auf den Gedanken kommen würde, bei einem Hauseingang Zuflucht zu suchen, um sich eine Zigarre anzuzünden, nicht einmal das Opfer selbst. Etwas weniger Wind, und das Verbrechen hätte nicht stattgefunden. Nun stand aber trotzdem ein Mann hinter der Tür, mit einem Revolver bewaffnet. Entweder war es nun ein Wahnsinniger, oder aber er erwartete jemanden, der kommen mußte . Und jetzt bedenken Sie mal, wie spät es war! … Elf Uhr nachts … Die ganze Stadt schläft, abgesehen von der kleinen Gruppe im Café des Hôtel de l’Amiral …
Ich bin noch nicht fertig. Werfen wir einen Blick auf die möglichen Schuldigen. Die Herren Le Pommeret und Jean Servières sowie Emma kommen nicht in Frage, denn sie befanden sich im Café.
Es bleiben Doktor Michoux, der eine Viertelstunde zuvor gegangen war, und der Vagabund mit den riesigen Füßen. Dazu ein Unbekannter, den wir X nennen werden. Einverstanden?
Nebenbei bemerkt ist Monsieur Mostaguen nicht tot und wird in vierzehn Tagen wieder auf den
Weitere Kostenlose Bücher