Maigret und der Spion
ohne zu ahnen, daß die Rolle knapp eine Stunde später tödliche Wirklichkeit sein würde … «
Dringliches Klopfen an der Tür, die aufging. Ein I n spektor trat ein.
»Monsieur Chabot möchte Sie sprechen, wenn er Sie nicht stört.«
Maigret und Delvigne sahen sich an.
»Lassen Sie ihn hereinkommen!«
Der Buchhalter war bewegt. Er wußte nicht, wie er seinen Hut halten sollte, und zögerte, als er Maigret im Büro erblickte.
»Entschuldigen Sie, daß ich … «
»Haben Sie mir etwas zu sagen?«
Er kam ungelegen. Es war nicht der Moment für la n ge Höflichkeiten.
»Ja … Das heißt … Verzeihen Sie, bitte … Ich wollte Ihnen sehr herzlich danken für … «
»Ist Ihr Sohn zu Hause?«
»Er ist vor einer Stunde nach Hause gekommen … Er hat mir gesagt … «
»Was hat er Ihnen gesagt?«
Es war zugleich albern und kläglich. Monsieur Ch a bot rang um Haltung. Er war voll guten Willens. Aber die schroffen Fragen brachten ihn aus dem Konzept, daß er die Rede vergaß, die er sich zurechtgelegt hatte. Eine rührende kleine Rede, die daran scheiterte, daß dafür die Stimmung falsch war.
»Er hat mir gesagt … Das heißt, ich wollte Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken, die Sie … Im Grund ist er kein schlechter Junge … Aber sein Umgang und eine g e wisse Charakterschwäche … Er hat mir geschworen … Seine Mutter muß das Bett hüten, und in ihrer G e genwart hat er … Ich verspreche Ihnen, Herr Kommi s sar, er wird nie wieder … Er ist doch unschuldig, nicht wahr? … «
Dem Buchhalter versagte die Stimme. Aber er gab sich große Mühe, seine Fassung und Würde zu bewa h ren.
»Er ist mein einziger Sohn, und ich möchte … Ich bin vielleicht zu nachsichtig gewesen … «
»Viel zu nachsichtig, ja.«
Das brachte Monsieur Chabot endgültig aus der Fa s sung. Maigret wandte den Kopf ab, weil er merkte, daß dieser Mann mit seinen vierzig Jahren, den schmalen Schultern und dem mit der Brennschere gelegten Schnurrbart gleich zu weinen anfangen würde.
»Ich verspreche Ihnen, künftig … «
Und da er nicht weiterwußte, stammelte er:
»Meinen Sie, ich sollte dem Untersuchungsrichter schreiben, um ihm zu danken?«
»Einverstanden! Einverstanden!« knurrte Kommissar Delvigne und schob ihn zur Tür. »Das ist ein ausg e zeichneter Gedanke!«
Damit hob er den Hut auf, der zu Boden gefallen war, drückte ihn seinem Besitzer in die Hand, der noch eine ganze Weile rückwärts ging.
»Dem Vater von Delfosse wird es nie einfallen, uns zu danken«, meinte Kommissar Delvigne, als sich die Tür geschlossen hatte. »Allerdings diniert er jede Woche beim Provinzgouverneur, und mit dem Generalstaat s anwalt duzt er sich. Na, ja! … «
Dieses »Na, ja!« ließ recht viel Überdruß und Verac h tung erraten, ebenso wie die Geste, mit der er die über den Schreibtisch verstreuten Papiere zusammenraffte.
»Was machen wir?«
Um diese Stunde schlief Adèle wohl noch in ihrem unordentlichen Zimmer, das nach Bett und Küche roch. Im ›Gai-Moulin‹ gingen jetzt Victor und Joseph träge von Tisch zu Tisch, wischten die Marmorplatten ab und polierten die Spiegel mit Schlemmkreide.
»Herr Kommissar! … Da ist der Redakteur der ›G a zette de Liège‹, dem Sie versprochen haben … «
»Er soll warten!«
Maigret hatte sich mißmutig wieder in eine Ecke g e setzt.
»Sicher ist jedenfalls«, stellte Kommissar Delvigne plötzlich fest, »daß Graphopulos tot ist!«
»Das ist eine Idee!« entgegnete Maigret.
Der andere sah ihn an, hielt es für Ironie.
Und Maigret fuhr fort:
»Ja! Das ist noch das Beste, was wir im Augenblick tun können. Wieviele Inspektoren sind im Moment da?«
»Zwei oder drei. Warum?«
»Läßt sich dieses Büro abschließen?«
»Natürlich!«
»Ich nehme an, Sie können sich auf Ihre Inspektoren besser verlassen als auf Ihre Gefängniswärter?«
Kommissar Delvigne verstand noch immer nicht.
»Nun … Geben Sie mir Ihren Revolver … Nur keine Angst! Ich werde gleich schießen … Einen Augenblick später gehen Sie raus und verkünden, der Mann mit den breiten Schultern habe Selbstmord begangen, was einem Geständnis entspricht, und damit sei die Untersuchung abgeschlossen … «
»Sie wollen?«
»Achtung! Ich schieße … Sorgen Sie vor allem dafür, daß nachher niemand hier reinplatzt … Kann man no t falls durch dieses Fenster hinaus?«
»Was haben Sie vor?«
»Ein Einfall … Verstanden? … «
Und Maigret schoß in die Luft, nachdem er sich mit dem Rücken zur
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