Maigret und der Treidler der Providence
hageren und schmächtigen Körper beinahe auf das Ruder legte, das zu schwer für ihn war.
4
Der Liebhaber
Ich habe schon gegessen!« verkündete Maigret, als er das Café de la Marine betrat, in dem Lucas in der Nähe eines Fensters saß.
»In Aigny?« fragte der Wirt. »Das ist nämlich die Gastwirtschaft meines Schwagers.«
»Bringen Sie uns zwei Bier.«
Man hätte Wetten darauf abschließen können: Kaum war der Kommissar, der sich auf seinem Fahrrad abstrampelte, in die Nähe von Dizy gekommen, da wurde der Himmel wieder grau. Und nun schraffierten Regentropfen den letzten Sonnenstrahl.
Die ›Southern Cross‹ lag noch immer an ihrem Platz. Auf Deck war niemand zu sehen. Und von der Schleuse wehte kein Geräusch herüber, so daß Maigret zum ersten Mal den Eindruck hatte, wirklich auf dem Lande zu sein, als er die Hennen im Hof gackern hörte.
»Nichts Neues?« fragte er den Inspektor.
»Der Matrose ist mit Proviant zurückgekommen. Die Frau hat sich einen Augenblick lang in einem blauen Morgenmantel auf Deck gezeigt. Der Colonel und Willy waren hier und haben einen Aperitif getrunken. Ich hatte den Eindruck, daß ihnen meine Anwesenheit nicht paßte.«
Maigret nahm den Tabak, den Lucas ihm hinhielt, stopfte seine Pfeife und wartete, bis der Wirt, der sie bedient hatte, im Laden verschwunden war.
»Bei mir auch nichts!« brummte er. »Von den beiden Lastkähnen, die Mary Lampson hätten herbringen können, liegt einer fünfzehn Kilometer von hier mit einer Panne fest, während der andere sich mit einer Geschwindigkeit von drei Kilometern in der Stunde den Kanal entlangschleppt. Der erste ist aus Eisen. Dort kann die Tote also nicht mit Harz in Berührung gekommen sein. Der zweite ist aus Holz. Die Besitzer heißen Canelle. Eine brave, füllige Mutter, die mir unbedingt ein Glas scheußlichen Rum aufdrängen wollte, und ein schmächtiger Mann, der wie ein treuer Spaniel um sie herumwuselt.
Bleibt also nur noch ihr Treidler.
Entweder spielt er den Beschränkten, das allerdings mit erstaunlicher Perfektion, oder aber er ist tatsächlich ein stumpfsinniger Rohling. Seit acht Jahren ist er bei ihnen. Wenn der Mann ein Spaniel ist, dann ist dieser Jean eine Bulldogge.
Er steht morgens um halb drei auf, kümmert sich um seine Pferde, schlürft eine Schale Kaffee und marschiert dann neben seinen Tieren her. So legt er jeden Tag seine dreißig bis vierzig Kilometer zurück, immer in demselben gleichmäßigen Trott und mit einem Glas Weißwein an jeder Schleuse. Am Abend reibt er die Pferde mit Stroh ab, ißt etwas, ohne ein Wort zu sagen, und läßt sich auf sein Bündel Heu fallen, meistens völlig angezogen.
Ich habe seine Papiere gesehen: ein alter Militärausweis, dessen Seiten man kaum umblättern kann, so klebrig sind sie, ausgestellt auf den Namen Jean Liberge, geboren 1869 in Lille.
Das ist alles. Nein, doch nicht! Nehmen wir einmal an, daß die ›Providence‹ Mary Lampson am Donnerstag abend in Meaux an Bord genommen hat. Da lebte sie noch. Und sie lebte auch noch, als sie Sonntag abend hier ankam. Es ist schlechterdings unmöglich, einen Menschen gegen seinen Willen zwei Tage lang im Pferdestall des Schiffes zu verstecken.
Dann wären sie also alle drei schuldig …«
Und Maigret zog ein Gesicht, an dem man ablesen konnte, daß er daran nicht glaubte.
»Aber wenn man davon ausginge, daß das Opfer freiwillig an Bord gegangen wäre? … Wissen Sie, was Sie tun könnten, mein Alter? Fragen Sie doch mal Sir Walter nach dem Mädchennamen seiner Frau. Hängen Sie sich ans Telefon und besorgen Sie mir Auskünfte über sie.«
An zwei oder drei Stellen drangen noch Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, aber der Regen fiel immer dichter. Lucas hatte das Café de la Marine gerade verlassen und den Weg zur Yacht eingeschlagen, als Willy Marco geschmeidig und lässig im Straßenanzug den Landesteg herunterkam, mit ausdruckslosem Blick.
Das war etwas, das offenbar allen Gästen der ›Southern Cross‹ gemeinsam war, nämlich ständig auszusehen wie Leute, die nicht ausgeschlafen oder nach zu reichlichen Gelagen verkatert waren.
Die beiden Männer begegneten einander auf dem Leinpfad. Willy schien zu zögern, als er den Inspektor an Bord gehen sah, aber dann steckte er sich eine neue Zigarette mit der, die er gerade zu Ende geraucht hatte, an und ging geradewegs auf das Café zu. Es war Maigret, den er suchte, und er machte kein Hehl daraus.
Er nahm seinen weichen Filzhut nicht ab, sondern tippte
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