Maigret und die Affäre Saint Fiacre
entsann sich der am Vorabend gehörten Wo r te.
›Es geht um das Beichtgeheimnis …‹
Er begriff die Qual des Priesters, seine Ängste, seinen Märtyrerblick unter dem Ansturm von Saint-Fiacres Worten.
»Was mag sie Ihnen gesagt haben? … Ich weiß, wie sie war, wahrhaftig! … Ich habe den Anfang der Verlo t terung sozusagen mitgemacht … Wir sind unter Leuten, denen nichts Menschliches fremd ist …«
Er schaute in dumpfem Zorn um sich:
»Es hat eine Zeit gegeben, in der man diesen Raum nur mit verhaltenem Atem betrat, weil mein Vater, der Gutsherr , darin arbeitete … Da gab es keinen Whisky im Wandschrank … Aber die Regale waren so voll von B ü chern, wie die Waben eines Bienenstocks voll Honig sind …«
Und Maigret seinerseits erinnerte sich desgleichen:
›Der Graf arbeitet …‹
Diese Worte genügten, um die Landpächter zwei Stunden lang im Vorzimmer warten zu lassen!
›Der Graf hat mich in die Bibliothek kommen lassen …‹
Solch eine Aufforderung war für Maigrets Vater stets anregend gewesen, ein wichtiges Ereignis.
»Er vergeudete keine Holzscheite im Kamin, sondern begnügte sich mit einem Petroleumöfchen, das er neben sich aufstellte, um die Heizung zu ersetzen …«, sagte Maurice de Saint-Fiacre.
Und zum verängstigten Priester:
»Sie haben das nicht miterlebt … Sie haben nur den Niedergang verfolgt … Meine Mutter, die ihren Mann verloren hatte … Meine Mutter, deren einziger Sohn in Paris Dummheiten anstellte und hier bloß erschien, um Geld zu verlangen … Daher die Sekretäre …«
Seine Augen glänzten so sehr, daß Maigret jeden Augenblick erwartete, eine Tränenspur entstehen zu sehen.
»Was hat sie Ihnen gesagt? … Sie hatte Angst davor, daß ich wieder auftauchte, nicht wahr? … Sie wußte, daß es gelten würde, ein neues Loch zu stopfen, etwas zu verkaufen, um mich einmal mehr aus einer Finan z klemme zu retten …«
»Beruhigen Sie sich doch!« sagte der Priester mit ma t ter Stimme.
»Nicht bevor ich weiß … ob Sie mich verdächtigt haben, ohne mich zu kennen, vom ersten Augenblick an …«
Maigret mischte sich ein:
»Der Herr Pfarrer ließ das Meßbuch verschwinden …«, sagte er langsam.
Seinerseits hatte er die Zusammenhänge schon erfaßt. Er trachtete, Saint-Fiacre weiterzuhelfen. Er stellte sich die Gräfin vor, hin- und hergerissen zwischen Sünde und Reue … Lebte sie nicht in Furcht vor Strafe? … Schämte sie sich nicht vor ihrem Sohn? …
Sie war seelisch aus dem Gleichgewicht, krank. Und warum sollte sie nicht eines Tages dem Priester in der Abgeschirmtheit des Beichtstuhls gestanden haben:
›Ich fürchte mich vor meinem Sohn …!‹
Denn Angst mußte sie haben. Das Geld, das für Jean Métayer-Typen draufging, war Geld der Saint-Fiacre, das Maurice zustand. Würde er nicht kommen, um R e chenschaft zu fordern? Würde …
Und Maigret spürte, wie diese Ideenkette im Kopf des jungen Mannes entstand, noch verworren. Er half, Kla r heit zu schaffen.
»Der Herr Pfarrer kann nichts enthüllen, was ihm die Gräfin unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses anve r traute …«
Mehr brauchte es nicht. Maurice de Saint-Fiacre brach das Gespräch sogleich ab.
»Verzeihen Sie, Herr Pfarrer … Ich dachte nicht mehr an Ihren Religionsunterricht … Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn …«
Er drehte den Schlüssel im Schloß, öffnete die Türe.
»Ich danke Ihnen … Sobald … Ich werde Ihnen so rasch wie möglich die vierzigtausend Franc zurückersta t ten … Ich vermute, daß sie nicht Ihnen gehören …«
»Ich habe sie von Madame Ruinard erbeten, der Witwe des ehemaligen Notars …«
»Danke … Auf Wiedersehen …«
Beinahe hätte er die Türe hinter dem Pfarrer brüsk zugeschlagen, doch er beherrschte sich, blickte Maigret in die Augen und stieß hervor:
»Gemeinheit!«
»Er wollte …«
»Er wollte mir aus der Patsche helfen, ich weiß! … Er hat versucht, einen Skandal zu verhüten, die Bruchstücke von Schloß Saint-Fiacre zusammenzukitten, so gut es eben geht … Das ist es nicht!«
Und er goß sich Whisky ein.
»Es ist diese arme Frau, an die ich denke! … Nehmen Sie Marie Vassilew, die Sie sahen … Und alle die anderen in Paris … Die haben keine Gewissenskrisen … Aber sie! … Und bedenken Sie, daß das, was sie bei di e sem Métayer suchte, vor allem die Möglichkeit war, Zärtlichkeit zu verschenken … Dann rannte sie zum Beichtstuhl … Sie muß sich als Ungeheuer betrachtet haben … Von da aus bis zur
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