Maigret und die Tänzerin Arlette
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Jetzt sitzt sie im Vorzimmer, und ich glaube, wir werden die nicht so leicht wieder los.«
Der kleine Lapointe nahm eben den Telefonhörer ab, aber die Verständigung schien schlecht zu sein.
»Ist dort Nizza?«
Er nickte. Janvier war nicht da. Maigret ging in sein Büro zurück und läutete nach dem Diener, damit er die alte Dame aus Lisieux hereinführe.
»Sie wollen mir wohl noch etwas sagen?«
»Ich weiß nicht, ob Sie etwas damit anfangen können. Ich habe unterwegs über alles nachgedacht. Sie wissen ja, wie es einem so geht. Ohne daß man es will, kramt man in seinen Erinnerungen. Ich möchte aber nicht den Anschein erwecken, daß ich anderen Schlechtes nachrede.«
»Sprechen Sie nur ganz offen.«
»Es betrifft Anne-Marie. Ich habe Ihnen heute morgen schon gesagt, daß sie vor fünf Jahren Lisieux verlassen und daß ihre Mutter nie versucht hat, zu erfahren, was aus ihr geworden ist. Unter uns gesagt, habe ich das immer ungeheuerlich gefunden. Sie ist schließlich doch die Mutter.«
Maigret blieb nichts übrig, als geduldig abzuwarten, was sie ihm noch offenbaren würde. Jedes Drängen war hier sinnlos.
»Die Leute haben natürlich viel darüber geredet. Lisieux ist eine Kleinstadt, wo nie etwas verborgen bleibt. Aber eine Frau, zu der ich volles Vertrauen habe und die jede Woche nach Caen fährt, wo sie geschäftlich zu tun hat, hat mir bei allen Heiligen geschworen, sie habe Anne-Marie kurz vor der Flucht aus dem Elternhaus in Caen getroffen, und zwar gerade, als das Mädchen dort einen Arzt aufsuchen wollte.«
Sie hielt mit triumphierender Miene ein, wunderte sich, daß Maigret ihr keine Frage stellte, seufzte leise auf und fuhr dann fort: »Nun, und das war nicht etwa irgendein Arzt, sondern Dr. Potu, der ein sehr bekannter Geburtshelfer ist.«
»Mit anderen Worten, Sie vermuten, Ihre Nichte habe die Stadt verlassen, weil sie schwanger war?«
»Das Gerücht ging dort allerdings um, und man fragte sich, wer wohl der Vater sein könnte.«
»Hat man es herausbekommen?«
»Man hat die verschiedensten Namen gekannt, es waren leider nur allzu viele, die es hätten sein können. Ich habe mir darüber immer meine eigenen Gedanken gemacht, und deswegen bin ich auch noch einmal zu Ihnen gekommen. Ich halte es nämlich für meine Pflicht, Ihnen zu helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Sie fand allmählich, daß die Polizei gar nicht so neugierig ist, wie man es immer behauptet. Denn Maigret kam ihr nicht ein bißchen entgegen, ermunterte sie so gar nicht zum Sprechen, sondern hörte ihr genauso gleichmütig zu, wie irgendein alter Beichtvater, der hinter seinem Gitter fast einschläft, während der arme Sünder all seine Missetaten bekennt. Als verriete sie ein sensationelles Geheimnis, sagte sie:
»Anne-Marie hatte immer mit dem Hals zu tun. Jeden Winter erkrankte sie mindestens einmal an Angina, und das wurde auch nicht besser, als man ihr die Mandeln herausgenommen hatte. In jenem Jahr, ich erinnere mich noch genau daran, kam meine Schwägerin auf den Gedanken, sie zu einer Kur nach La Bourboule zu schicken, wo besonders Halskrankheiten behandelt werden.«
Maigret erinnerte sich an die ein wenig rauhe Stimme Arlettes, die er dem vielen Trinken und Zigarettenrauchen und den Nächten ohne Schlaf zugeschrieben hatte.
»Als sie Lisieux verließ, war von ihrem Zustand noch nichts zu sehen. Vermutlich war sie erst drei oder vier Monate schwanger. Allerhöchstens. Zumal sie immer sehr enganliegende Kleider trug. Nun, und das fällt genau mit ihrem Aufenthalt in La Bourboule zusammen. Dort hat sie, möchte ich schwören, den Mann kennengelernt, von dem sie das Kind erwartete, und wahrscheinlich ist sie dann zu ihm zurückgegangen. Wenn’s einer aus Lisieux gewesen wäre, hätte er das Kind abtreiben lassen oder wäre mit ihr fortgezogen.«
Maigret zündete sich bedächtig seine Pfeife an. Er fühlte sich so zerschlagen wie nach einem langen Marsch – wahrscheinlich der Ekel, den er empfand. Wie bei Philippe hätte er am liebsten das Fenster geöffnet.
»Ich nehme an, Sie fahren wieder dorthin zurück?«
»Heute noch nicht. Ich werde wohl noch einige Tage in Paris bleiben, ich habe hier nämlich Freunde, bei denen ich wohnen kann, und ich werde Ihnen ihre Adresse hinterlassen.«
Sie wohnte am Boulevard Pasteur. Sie hatte die Adresse bereits auf eine ihrer Visitenkarten geschrieben, auch die Telefonnummer hinzugesetzt.
»Wenn Sie mich brauchen, können Sie mich anrufen.«
»Ich danke
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