Maigret und Monsieur Charles
Bericht liegt mir noch nicht vor.« »Weil es noch nichts zu berichten gibt«, entgegnete der Kommissar mit dem gleichen Lächeln. »Sie vergessen, dass die Leiche erst gestern gefunden wurde.«
»Ich habe mir sagen lassen, dass Sie schon seit drei Tagen ermitteln.«
»Ohne Erfolg. Für heute Morgen brauche ich einen Durchsuchungsbefehl...«
»Boulevard Saint-Germain?«
»Ja. Madame Sabin-Levesque hegt keine große Sympathie für mich...«
»Aus ihrem Interview geht das aber nicht hervor...«
»Sie erzählt den Journalisten, was sie will... Ich möchte die Wohnung des Notars gründlich durchsuchen. Bisher konnte ich nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen...«
»Werden Sie mich auch nicht allzu lange ohne Neuigkeiten lassen?«
Das war eine Anspielung auf das Renommee, das Maigret hatte. Denn im Palais stand er in dem Ruf, die Ermittlungen nach seinem eigenen Kopf zu führen, ohne sich viel um die Untersuchungsrichter zu kümmern.
Zwanzig Minuten später traten er und Lapointe unter das Torgewölbe, das sie nun schon gut kannten. Maigret hatte die Idee, in die Pförtnerloge hineinzuschauen, wo er von einem sehr würdevollen Pförtner empfangen wurde. Die Loge sah aus wie ein Salon.
»Ich fragte mich schon, ob Sie nicht auch mal zu mir kommen würden, Herr Kommissar...«
»Ich war dermaßen im Druck...«
»Ich kann Sie verstehen... Ich war früher auch Polizist; ich habe als Schutzmann gearbeitet... Die Dame macht Ihnen zu schaffen, nehme ich an...«
»Eine ihres Schlags trifft man nicht alle Tage...«
»Eine komische Ehe führen, oder vielmehr führten - der gute Mann ist ja tot - die beiden schon, das kann man wohl sagen. Da haben die Leute zwei Autos und einen Chauffeur, aber wenn sie ausgehen, dann meistens zu Fuß. Ich habe sie nie gemeinsam aus dem Haus gehen sehen, und die Mahlzeiten nahmen sie anscheinend auch getrennt ein.«
»So gut wie immer.«
»Sie bekommen nie Besuch, was auch immer sie den Journalisten erzählt haben mag. Er, der Notar, geht ab und zu fort wie ein junger Mann, die Hände in den Hosentaschen, unbekümmert, ohne etwas mitzunehmen. Ich vermute, er hat irgendwo einen zweiten Haushalt oder ein Zimmer in der Stadt...«
»Ich werde bei Gelegenheit wieder bei Ihnen hereinschauen. Sie scheinen ein guter Beobachter zu sein...«
»Alles Gewohnheit, stimmt’s?«
Wenig später klingelte Maigret an der Wohnungstür. Claire lief vor Wut rot an, als sie die beiden Männer erblickte, und hätte ihnen bestimmt die Tür vor der Nase zugeschlagen, wenn Maigret nicht vorsichtshalber den Fuß dazwischengeschoben hätte.
»Madame ist...«
»Madame kümmert mich nicht. Wenn Sie lesen können, dann lesen Sie mal das Papier hier. Das ist ein Durchsuchungsbefehl, ausgestellt vom Untersuchungsrichter. Wenn Sie nicht wegen Behinderung der Justiz belangt werden wollen...«
»Was möchten Sie sehen?«
»Ich brauche Sie nicht. Ich kenne mich in der Wohnung aus...«
Und gefolgt von Lapointe, steuerte er auf die Wohnung des Notars zu. Was ihn interessierte, war vor allem der Schreibtisch. Und wirklich war von allen Möbeln nur der kleine Mahagonischreibtisch mit den vier Schubladen abgeschlossen.
»Würdest du mal das Fenster aufmachen? Es riecht muffig hier.«
Er probierte drei Schlüssel aus, bevor er den richtigen fand. Die Schublade enthielt nur Briefpapier mit Briefkopf, Umschläge und zwei Füllfederhalter, von denen einer aus massivem Gold war.
Der Inhalt der zweiten Schublade war interessanter. Er fand eine Reihe von Amateurfotos darin, die meisten an der Côte d’Azur aufgenommen, im Park einer riesigen Villa im Stil des 18. Jahrhunderts. Nathalie war darauf etwa zwanzig Jahre jünger, und der Notar, ohne Jackett, sah aus wie ein Student.
Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: »La Florentine«, was offenbar der Name der Villa war.
Auf einem der Fotos stand neben dem Paar, dicht bei Sabin-Levesque, ein großer deutscher Schäferhund.
Erst jetzt fiel Maigret plötzlich auf, dass es im Haus weder Hund noch Katze gab.
Er wollte die Schublade gerade wieder zuschieben, als er ganz hinten ein kleines Passbild entdeckte, wie man sie in den Fotoautomaten erhält. Es war Nathalie, noch jünger als auf den Cannes-Fotos, vor allem aber völlig anders. Ihr Lächeln war gewollt geheimnisvoll, ihre Augen blickten fragend.
Auf der Rückseite nur ein einziges Wort, ein Name: Trika.
Ein Pseudonym offenbar, und sie hatte es sich gewiss nicht zugelegt, um als Sekretärin bei einem Anwalt
Weitere Kostenlose Bücher