Maigret und Pietr der Lette
Zwischengeschoß befand sich eine Art verglaste Loge, in der eine jüdische Familie beim Essen saß.
Der Kommissar klopfte, aber anstatt die Tür zu öffnen, wurde eine Schalterscheibe hochgeschoben. Ein ranziger Geruch drang heraus. Der Jude hatte ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf. Seine korpulente Frau aß ruhig weiter.
»Was wünschen Sie?«
»Polizei! Den Namen des Mieters, der eben hereingekommen ist.«
Der Mann murmelte etwas in seiner Muttersprache, holte ein klebriges Verzeichnis aus einer Schublade und schob es ihm wortlos durch den Schalter.
Im selben Augenblick merkte Maigret, daß ihn jemand aus dem unbeleuchteten Treppenhaus beobachtete. Er drehte sich kurz um und sah ein Dutzend Stufen über ihm ein Auge leuchten.
»Welches Zimmer?«
»Zweiunddreißig …«
Er blätterte in dem Verzeichnis und las:
»Fedor Jurowitsch, 28 Jahre, geboren in Wilna, Arbeiter, und Anna Gorskin, 25 Jahre, geboren in Odessa, ohne Beruf.«
Der Jude hatte sich wieder hingesetzt und aß wie jemand, der ein ruhiges Gewissen hat. Maigret trommelte gegen die Scheibe. Der Hotelier stand langsam und unwillig auf.
»Wie lange wohnt er schon hier?«
»Fast drei Jahre.«
»Und Anna Gorskin?«
»Sie war vor ihm hier … Vielleicht viereinhalb Jahre …«
»Wovon leben sie?«
»Sie haben ja gelesen, er ist Arbeiter.«
»Hören Sie mal!« äußerte Maigret in einem Ton, daß sein Gesprächspartner seine Haltung schnell änderte.
»Das übrige geht mich nichts an, oder?« sagte er ergebener. »Er bezahlt regelmäßig. Er geht, er kommt, und es ist nicht meine Aufgabe, ihm hinterherzulaufen.«
»Bekommt er Besuch?«
»Hin und wieder … Ich habe mehr als sechzig Mieter, und ich komme nicht dazu, sie zu überwachen … Solange sie nichts Schlimmes tun … Übrigens, da Sie von der Polizei sind, müßten Sie das Haus kennen … Meine Eintragungen sind immer in Ordnung … Inspektor Vermouillet wird es Ihnen bestätigen … Er kommt jede Woche …«
Maigret drehte sich unversehens um und rief:
»Kommen Sie herunter, Anna Gorskin!«
Man hörte ein leichtes Geräusch auf der Treppe, dann Schritte. Schließlich trat eine Frau ins Licht.
Sie schien älter als die angegebenen fünfundzwanzig Jahre zu sein. Das lag wahrscheinlich an ihrer Herkunft. Wie viele Jüdinnen ihres Alters war sie füllig geworden, ohne jedoch eine gewisse Schönheit zu verlieren. Die tiefdunklen Pupillen im leuchtenden Weiß ihrer Augen waren auffallend.
Aber etwas Nachlässiges in ihrer übrigen Erscheinung zerstörte diesen Eindruck. Ihre schwarzen, fettigen, ungekämmten Haare fielen in dicken Strähnen auf die Schultern. Sie war in einen abgetragenen Morgenmantel gehüllt, der etwas offenstand und die Unterwäsche sehen ließ. Die Strümpfe waren über ihren plumpen Knien aufgerollt.
»Was haben Sie da auf der Treppe gemacht?«
»Ich bin hier zu Hause …«
Maigret spürte sofort, mit welcher Sorte Frau er es zu tun hatte. Sie war leidenschaftlich und frech und suchte Streit. Beim geringsten Anlaß würde sie einen Skandal heraufbeschwören, alle Hausbewohner aufwiegeln, gellend schreien und zweifellos die unwahrscheinlichsten Anschuldigungen erheben.
Vielleicht hielt sie sich für unangreifbar. Jedenfalls blickte sie den Feind herausfordernd an.
»Sie sollten sich besser um Ihren Liebhaber kümmern …«
»Das ist meine Sache …«
Der Hotelier wiegte sein bekümmertes und vorwurfsvolles Gesicht hinter dem Guckloch von links nach rechts und von rechts nach links, aber seine Augen lachten.
»Wann hat Fedor Sie verlassen?«
»Gestern abend … Um elf …«
Sie log! Das war völlig klar! Aber es hätte nichts genützt, sie vor den Kopf zu stoßen. Oder man hätte sie einfach an den Schultern packen und abführen müssen.
»Wo arbeitet er?«
»Wo es ihm gefällt …«
Ihre Brust bebte unter dem schlechtsitzenden Morgenrock. Ihr Mund verzog sich boshaft, verächtlich.
»Was will die Polizei von Fedor?«
Maigret zog es vor, ziemlich leise zu sagen:
»Verziehen Sie sich nach oben!«
»Ich gehe, wenn es mir paßt! Sie haben mir keine Befehle zu erteilen!«
Warum sollte er darauf antworten und einen grotesken Zwischenfall herbeiführen, der der Untersuchung nur schaden würde? Maigret schloß das Eintragungsbuch wieder und reichte es dem Hotelier zurück.
»In Ordnung, nicht wahr?« stieß der hervor und gab der jungen Frau ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.
Doch sie blieb bis zum Schluß, die Fäuste in die Hüften gestemmt,
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