Maigret und Pietr der Lette
die eine Hälfte des Körpers im Licht, das aus der Loge fiel, die andere im Dunkeln.
Der Kommissar sah sie noch einmal an. Sie hielt seinem Blick stand und konnte sich nicht verkneifen zu murmeln:
»Oh, vor Ihnen habe ich keine Angst!«
Er zuckte die Schultern, stieg die Treppe hinab und streifte dabei rechts und links die getünchten Wände.
Im Hausflur stieß er auf zwei Polen, die keine Kragen trugen und die Köpfe bei seinem Anblick abwandten. Die Straße war naß, auf dem Pflaster spiegelte sich das Licht.
In allen Ecken, an den winzigsten schattigen Stellen, in den Sackgassen und Durchgängen ahnte man ein Gewimmel von Menschen, ein heimliches, verschämtes Leben. Schatten strichen an den Mauern entlang. Die Händler verkauften Waren, deren Namen die Franzosen nicht einmal kennen.
Kaum hundert Meter weiter befinden sich die Rue de Rivoli und die Rue Saint-Antoine, breite, helle Straßen mit ihren Omnibussen, ihren Schaufenstern, ihren Schutzmännern …
Maigret blieb stehen und hielt einen vorbeirennenden Jungen an der Schulter fest, der Ohren wie Kohlblätter hatte.
»Hol mir einen Polizisten von der Place Saint-Paul …«
Doch der Bursche sah ihn nur erschrocken an, antwortete etwas Unverständliches. Er konnte kein Wort Französisch.
Der Kommissar wandte sich an einen zerlumpten Mann: »Hier sind hundert Sous … Bring diesen Zettel dem Schupo an der Place Saint-Paul …«
Der Stromer begriff. Zehn Minuten später war ein uniformierter Polizist zur Stelle.
»Rufen Sie die Kriminalpolizei an, sie sollen mir sofort einen Inspektor schicken … Möglichst Dufour …«
Noch eine gute halbe Stunde ging er auf und ab. Leute betraten das Hotel, andere verließen es. Aber immer brannte in der dritten Etage hinter dem zweiten Fenster von links das Licht.
Anna Gorskin erschien in der Tür. Sie hatte einen grünlichen Mantel über ihren Morgenrock geworfen. Sie trug keinen Hut, und trotz des Regenwetters hatte sie nur rotseidene Sandalen an.
Sie tappte über die Straße. Maigret verbarg sich im Dunkeln.
Sie ging in einen Laden, aus dem sie ein paar Minuten später mit zahllosen weißen Päckchen und zwei Flaschen unterm Arm wieder herauskam, dann verschwand sie in dem Haus.
Endlich traf Inspektor Dufour ein. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und er sprach ziemlich fließend drei Sprachen, was ihn trotz seiner Angewohnheit, die einfachsten Geschichten zu verkomplizieren, recht wertvoll machte.
Aus einem gewöhnlichen Einbruch oder einem Taschendiebstahl konnte er ein geheimnisvolles Drama machen, über dem er selbst den Kopf verlor.
Aber bei einem klaren Auftrag, wie einer Überwachung oder Beschattung, arbeitete er dank seiner ungewöhnlichen Ausdauer hervorragend.
Maigret gab ihm die Personenbeschreibung von Fedor Jurowitsch und seiner Geliebten.
»Ich werde dir einen Kollegen schicken. Wenn einer von beiden das Haus verläßt, folgst du ihm, aber jemand muß hier als Wache bleiben … Verstanden?«
»Immer noch die Geschichte mit dem Nordexpreß? Ein Schlag der Mafia, was?«
Der Kommissar zog es vor, zu gehen. Eine Viertelstunde später war er am Quai des Orfèvres, schickte einen Kollegen zu Dufour und beugte sich über seinen Ofen, wobei er auf Jean schimpfte, der es nicht geschafft hatte, ihn zum Glühen zu bringen. Sein von der Nässe steif gewordener Mantel hing am Kleiderhaken und behielt die Form seiner Schultern bei.
»Hat meine Frau angerufen?«
»Heute morgen … Man hat ihr gesagt, daß Sie beruflich unterwegs sind …«
Sie war daran gewöhnt. Er wußte, daß sie bei seiner Rückkehr damit zufrieden sein würde, ihm einen Kuß zu geben, ihre Töpfe auf dem Herd hin und her zu schieben und einen Teller mit duftendem Ragout zu füllen. Sie würde, allerdings erst, wenn er am Tisch saß, höchstens wagen, ihn zu betrachten und, das Kinn in die Hände gestützt, zu fragen: »Wie geht’s?«
Mittags oder um fünf Uhr stand die Mahlzeit ebensogut für ihn bereit.
»Torrence? …« fragte er Jean.
»Er hat heute früh um sieben angerufen …«
»Vom Majestic?«
»Ich weiß nicht. Er hat gefragt, ob Sie weg sind.«
»Und weiter?«
»Heute nachmittag hat er um zehn nach fünf noch mal angerufen. Er läßt Ihnen ausrichten, daß er auf Sie wartet.«
Maigret hatte seit dem Hering am Morgen nichts gegessen. Er blieb einen Augenblick vor seinem Ofen stehen, der zu bullern begann; denn er hatte ein einzigartiges Geschick, selbst die widerspenstigsten Kohlen zum Brennen zu
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