Maigret und Pietr der Lette
ungesund aussehender Gigolo mit unsteten Augen, der vor Aufregung gegen seinen Tisch gestoßen war, als er auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Moretto an ihm vorbeiging.
Er hatte nach der Tat nicht gewagt, nach Hause zurückzukehren, und es vorgezogen, seine wenigen Klamotten und die elf Beutelchen dazulassen, obwohl jedes einzelne gut tausend Francs wert war.
Der würde sich eines Tages fangen lassen, denn er hatte keinen Mumm, und er mußte von Angst gepeinigt sein.
Pepito dagegen war kaltblütig. Vielleicht wartete er auf einem Bahnhof auf die Abfahrt des ersten Zuges. Vielleicht hatte er sich in einen Vorort verkrochen oder einfach das Stadtviertel und das Hotel gewechselt.
Maigret rief ein Taxi herbei und hätte beinahe die Adresse des Majestic angegeben. Doch er rechnete sich aus, daß sie dort noch nicht fertig wären. Mit anderen Worten: Torrence lag weiterhin in dem Zimmer.
»Quai des Orfèvres …«
Als er an Jean vorbeiging, merkte er, daß der schon Bescheid wußte, und wie jemand, der sich schuldig fühlt, wandte er den Kopf ab.
Er beschäftigte sich nicht mit seinem Ofen. Er zog weder die Jacke aus, noch nahm er den Kragen ab.
Zwei Stunden lang saß er mit aufgestützten Ellbogen an seinem Schreibtisch, und es wurde hell, als er daran dachte, eine Nachricht zu lesen, die ihm im Verlauf der Nacht hingelegt worden sein mußte.
Für Kommissar Maigret, Dringend.
Ein Mann im Frack hat gegen halb zwölf das Hotel Roi de Sicile betreten und sich dort zehn Minuten aufgehalten. Abfahrt in einer Limousine. Der Russe ist nicht weggegangen.
Maigret zuckte nicht mit der Wimper. Die Nachrichten trafen nun alle auf einmal ein. Zuerst kam ein Anruf vom Kommissariat in Courcelles:
»Ein gewisser José Latourie, Eintänzer, ist in der Nähe des Eingangs zum Park Monceau tot aufgefunden worden. Er weist Spuren von drei Messerstichen auf. Seine Brieftasche wurde ihm nicht gestohlen. Wann und unter welchen Umständen das Verbrechen begangen wurde, ist unbekannt.«
Maigret dagegen wußte es. Er stellte sich sofort Pepito Moretto vor, der den jungen Mann, als er das Pickwick’s verließ, für zu erregt gehalten und befürchtet hatte, daß er sich verraten würde. Und so hatte er José kurzerhand ermordet und sich – vielleicht ja nur aus Trotz – nicht einmal die Mühe gemacht, ihm Brieftasche und Ausweis wegzunehmen.
›Sie glauben, uns durch ihn fangen zu können? Hier ist er!‹ schien er zu sagen.
Halb neun. Am Telefon der Geschäftsführer des Majestic.
»Hallo? … Kommissar Maigret? … Es ist unglaublich, unerhört! Vor wenigen Minuten hat die 17 angerufen … Die 17! … Erinnern Sie sich? … Derjenige, der …«
»Oswald Oppenheim, ja … Und?«
»Ich habe einen Kellner hinaufgeschickt … Oppenheim hat im Bett gelegen, als ob nichts passiert sei, er hat sein Frühstück verlangt …«
10
Die Rückkehr Oswald Oppenheims
Zwei Stunden hatte Maigret sich nicht gerührt. Als er aufstehen wollte, konnte er die Arme kaum bewegen, und er mußte nach Jean läuten, um sich in den Mantel helfen zu lassen. »Bestell mir ein Taxi …«
Wenige Minuten später war er bei Dr. Lecourbe in der Rue Monsieur le Prince. Sechs Patienten saßen im Wartezimmer, aber man ließ ihn daran vorbei durch die Wohnung gehen, und sobald das Sprechzimmer frei war, wurde er hereingebeten.
Erst eine Stunde später kam er wieder heraus. Sein Oberkörper war noch steifer als zuvor. Die Ringe um seine Augen hatten sich so vertieft, daß er verändert aussah, als sei er geschminkt.
»Rue de Roi de Sicile! Ich sage Ihnen, wo Sie halten sollen …«
Von weitem schon erblickte er seine beiden Inspektoren, die vor dem Hotel auf und ab gingen. Er stieg aus und trat zu ihnen.
»Nicht weggegangen?«
»Nein. Einer von uns ist immer auf Posten geblieben.«
»Wer hat das Hotel verlassen?«
»Ein kleiner gebrechlicher Alter, dann zwei junge Leute und eine etwa dreißigjährige Frau …«
Maigret zuckte mit den Schultern und seufzte:
»Hatte der Greis einen Bart?«
»Ja …«
Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sie stehen, stieg die enge Treppe hinauf und ging an der Portiersloge vorbei. Kurz darauf rüttelte er an der Zimmertür 32. Eine Frauenstimme antwortete in einer fremden Sprache. Die Tür gab nach, und er sah Anna Gorskin, die halbnackt aus dem Bett kam.
»Dein Liebhaber?« fragte er.
Er tat kurz angebunden, wie jemand, der es eilig hat, und er machte sich nicht die Mühe, den Raum zu inspizieren.
Anna
Weitere Kostenlose Bücher