Maigret und Pietr der Lette
Mortimer, die zu leicht zu beeindrucken war. Sie wurde nach Berlin geschickt. Das war eine zuvorkommende Behandlung.
Zurück blieben die Starken: Pietr, der Lette, der noch nicht fertig angezogen war, Mortimer-Levingston, der von seinem aristokratischen Auftreten nichts verloren haben dürfte, und Pepito Moretto, der Killer der Bande.
Alle drei, durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden, trafen ihre Vorbereitungen.
Der Feind war hier, mitten unter ihnen, im Zentrum der Halle, die sich zu beleben begann. Unbeweglich saß er in seinem Korbsessel, hatte die Beine ausgestreckt und bekam feinste Wassertröpfchen von der Fontäne ins Gesicht gesprüht, die ein pfeifendes Geräusch machte.
Einer der Fahrstühle hielt an.
Pietr, der Lette, erschien zuerst, in einen wunderbaren zimtbraunen Anzug gekleidet, eine ›Henry Clay‹ zwischen den Lippen.
Er fühlte sich hier zu Hause. Er bezahlte dafür. Ungezwungen und selbstsicher schlenderte er durch die Halle, blieb da oder dort vor einer der Vitrinen stehen, die die großen Geschäftshäuser in den Luxushotels aufstellen, ließ sich von einem Pagen Feuer geben, betrachtete aufmerksam eine Tafel mit den neuesten Devisenkursen, stellte sich, kaum drei Meter von Maigret entfernt, vor den Springbrunnen, blickte gebannt auf die Goldfische, die künstlich wirkten, schnippte schließlich die Asche von seiner Zigarre in das Becken und ging ins Lesezimmer hinüber.
11
Der Tag des Kommens und Gehens
Pietr, der Lette, überflog ein paar Zeitungen. Mehr als den anderen schenkte er dabei dem Revaler Boten seine Aufmerksamkeit, einem estnischen Blatt, von dem es im Majestic nur eine alte Ausgabe gab, die wahrscheinlich ein Reisender vergessen hatte.
Kurz vor elf steckte er sich eine neue Zigarre an, durchquerte die Halle und ließ sich von einem Boy seinen Hut holen.
Die eine Seite der Champs-Elysées lag im vollen Sonnenlicht, und es war recht mild.
Mit grauem Filzhut, aber ohne Mantel ging der Lette langsam, wie jemand, der nur frische Luft schnappen will, zur Place d’Etoile hinauf.
Ohne sich verstecken zu wollen, blieb ihm Maigret auf den Fersen. Sein Verband, der ihn in seinen Bewegungen behinderte, ließ ihn diesen Spaziergang wenig genießen.
An der Ecke der Rue de Berry hörte er in seiner Nähe einen leisen Pfiff, doch er achtete nicht darauf. Dann erneutes Pfeifen. Als er sich umdrehte, sah er Inspektor Dufour, der eine geradezu geheimnisvolle Pantomime aufführte, um seinem Chef verständlich zu machen, daß er ihm etwas zu sagen hatte.
Der Inspektor stand in der Rue de Berry vor einer Apotheke und tat so, als betrachte er die Schaufensterauslagen, so daß sich seine Gesten auf einen wächsernen Frauenkopf zu beziehen schienen, dessen eine Wange von einem Ekzem bedeckt war.
»Komm her! … Los! … Schnell! …«
Dufour war über diese Worte ebenso betroffen wie ungehalten.
Seit einer Stunde schlich er um das Majestic herum, wendete alle nur erdenklichen Listen an, um nicht erkannt zu werden, und nun befahl ihm der Kommissar, sich ohne weiteres zu entdecken!
»Was geht vor?«
»Die Jüdin …«
»Weggegangen?«
»Sie ist hier … Und da Sie mich gezwungen haben, auf Sie zuzukommen, kann sie uns jetzt sehen …«
Maigret schaute sich um.
»Wo ist sie?«
»Im Select … Sie sitzt drinnen … Gucken Sie, der Vorhang bewegt sich!«
»Überwach sie weiter …«
»Ohne mich zu verbergen?«
»Nimm einen Aperitif am Nachbartisch, wenn es dir Spaß macht.«
Denn in diesem Stadium des Kampfes hatte es keinen Sinn mehr, Versteck zu spielen. Maigret setzte seinen Weg fort und erblickte zweihundert Meter weiter den Letten, der das Gespräch nicht genutzt hatte, um sich seiner Beschattung zu entziehen.
Und warum auch weglaufen? Die Auseinandersetzung fand auf einer neuen Ebene statt. Die Gegner konnten sich sehen. Die Karten lagen fast alle auf dem Tisch.
Zweimal schlenderte Pietr vom Etoile zum Rond-Point, und am Ende kannte Maigret alle Einzelheiten dieser Gestalt, hatte er seinen Charakter im Grunde erfaßt.
Dieser Mann war zierlich, lebhaft und eigentlich vornehmer als Mortimer, aber eben von nordischer Vornehmheit.
Der Kommissar hatte einige Leute dieses Schlages beobachtet, lauter Intellektuelle. Und jene, die er während seines abgebrochenen Medizinstudiums im Quartier Latin kennengelernt hatte, verwirrten den Romanen, der er war.
Er erinnerte sich unter anderem an einen von ihnen, an einen mageren blonden Polen, der mit zweiundzwanzig
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