Maigret und Pietr der Lette
der Kriminalbeamte riskierte nicht viel.
Der Lette verbarg sich kaum, trotzte der Polizei und war sicher, daß sie nichts Belastendes gegen ihn in der Hand hatte.
Den Beweis dafür lieferte diese Kette von Telegrammen, die genau seiner Spur folgten, von Krakau nach Bremen, von Bremen nach Amsterdam, von Amsterdam nach Brüssel und Paris. Aber da war der Tote im Nordexpreß. Und es gab vor allem die Entdeckung Maigrets: die unerwarteten Beziehungen zwischen dem Letten und Mortimer-Levingston.
Und diese Entdeckung war entscheidend!
Pietr war ein Gangster, der zugab, es zu sein, und sich damit begnügte, der internationalen Polizei zu sagen: ›Versucht nur, mich auf frischer Tat zu ertappen!‹
Mortimer galt in der ganzen Welt als Ehrenmann.
Zwei Menschen waren imstande, die Verbindung zwischen Pietr und Mortimer erraten zu haben.
Und am selben Abend wurde Torrence umgebracht! Maigret war in der Rue Fontaine mit einem Revolver angeschossen worden!
Eine dritte, aufgeschreckte Person, die sicher nicht viel wußte, aber Anlaß zu einer neuen Untersuchung hätte geben können, wurde beseitigt: José Latourie, der Eintänzer.
Nun waren Mortimer und der Lette in der Überzeugung, daß alle drei Morde ausgeführt waren, an ihre Plätze zurückgekehrt. Sie saßen da oben in ihren Luxusappartements, befehligten per Telefon die ganze Dienerschaft eines Palastes, nahmen ein Bad, frühstückten und kleideten sich an.
Unten wartete Maigret auf sie, ganz allein, in seinem unbequemen Korbsessel, die eine Seite der Brust steif und stechend, der rechte Arm vor dumpfem Schmerz fast unbeweglich.
Er hatte die Macht, sie zu verhaften. Aber er wußte, daß das nichts nützen würde. Bestenfalls fände man Beweise gegen Pietr, den Letten, sprich Fedor Jurowitsch, sprich Oswald Oppenheim, der auch noch andere Namen getragen haben dürfte, wie vielleicht Olaf Swaan.
Aber gegen Mortimer-Levingston, den amerikanischen Milliardär? Eine Stunde nach seiner Festnahme würde die Botschaft der Vereinigten Staaten Einspruch erheben. Die französischen Banken, Finanz- und Industriegesellschaften, in deren Verwaltungsrat er saß, würden die Politiker mobilisieren.
Welchen Beweis? Welches Indiz? Daß er ein paar Stunden mit Pietr, dem Letten, verschwunden war? Daß er im Pickwick’s zu Abend gegessen und seine Frau mit José Latourie getanzt hatte? Daß ein Polizeiinspektor gesehen hatte, wie er ein schäbiges Hotel namens Roi de Sicile betrat?
All das würde vom Tisch gefegt werden. Man müßte sich entschuldigen, ja, um den Vereinigten Staaten Genugtuung zu geben, Maßnahmen ergreifen und Maigret zumindest scheinbar kaltstellen.
Torrence war ermordet worden!
Er war sicher beim ersten Morgengrauen auf einer Bahre durch dieselbe Halle gekommen. Es sei denn, der Geschäftsführer hatte, um irgendeinem morgendlichen Gast diesen peinlichen Anblick zu ersparen, die Anweisung gegeben, den Transport durch den Personalausgang zu leiten.
Das war denkbar. Die schmalen Flure, die Wendeltreppen, wo die Bahre gegen die Geländer stieß …
Telefon, hinter der Mahagonitheke. Kommen und Gehen. Eilige Anordnungen.
Der Geschäftsführer kam.
»Mrs. Mortimer-Levingston reist ab … Eben wurde von oben angerufen, ihr Gepäck soll abgeholt werden … Der Wagen ist vorgefahren …«
Maigret zeigte nur ein blasses Lächeln.
»Mit welchem Zug?« fragte er.
»Sie fliegt vom Flughafen Bourget aus nach Berlin …«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da erschien sie, in einen grauen Reisemantel gehüllt, eine Krokodilledertasche in der Hand. Sie ging schnell. An der Drehtür angekommen, konnte sie jedoch nicht umhin, noch einmal zurückzublicken.
Damit sie ihn gut sah, erhob sich Maigret mühsam. Er war sicher, daß sie sich seinetwegen auf die Lippen biß, noch eiliger hinausstürzte. Heftig gestikulierend gab sie draußen dem Chauffeur ihre Anweisungen.
Der Geschäftsführer wurde woandershin gerufen. Der Kommissar stand allein vor dem Springbrunnen, der auf einmal in Gang kam. Er schien zu einer bestimmten Uhrzeit angestellt zu werden.
Es war zehn Uhr.
Maigret lächelte vor sich hin und nahm schwerfällig, aber vorsichtig wieder Platz, denn bei der geringsten Bewegung schmerzte seine Wunde, die immer empfindlicher wurde.
»Die Schwachen werden beseitigt …«
So war es wohl! Nach José Latourie, den man für zu wenig zuverlässig gehalten und mit drei Messerstichen in die Brust aus dem Gefecht gezogen hatte, entfernte man auch Mrs.
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