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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Kommissar kam nach ihm, als Pietr gerade einen Absinth-Ersatz bestellte.
    Er stand vor einer hufeisenförmigen Bar, die ein Kellner in blauer Schürze von Zeit zu Zeit mit einem schmutzigen Lappen abwischte. Links von ihm eine Gruppe staubiger Maurer. Rechts ein Kassierer der Gaswerke.
    Der Lette fiel durch seine Korrektheit, durch den raffinierten Luxus in den Einzelheiten seiner Kleidung sofort auf.
    Man sah seinen kleinen, zu blonden, zahnbürstenförmigen Schnurrbart, seine dünnen Augenbrauen schimmern. Er blickte Maigret nicht direkt an, sondern auf dem Umweg über einen Spiegel.
    Und der Kommissar gewahrte ein leichtes Zittern der Lippen, ein unmerkliches Zusammenziehen der Nasenflügel.
    Pietr mußte sich zusammennehmen. Er begann langsam zu trinken, bald aber kippte er den Rest mit einem Zug hinunter und gab mit der Geste eines Fingers zu verstehen:
    »Nachschenken! …«
    Maigret hatte einen Wermut bestellt. In der winzigen Bar wirkte er noch größer und massiver als sonst. Er ließ den Letten nicht aus den Augen.
    Und er erlebte gewissermaßen zwei Szenen gleichzeitig. Wie vorhin überlagerten sich die Bilder. Die schäbige Kneipe von Fécamp schien hinter dem gegenwärtigen Dekor auf. Pietr war doppelt zugegen. Maigret sah ihn in seinem zimtbraunen Anzug und in seinem abgetragenen Trenchcoat.
    »Länger, sag ich dir, laß ich mich nicht abspeisen!« sagte einer der Maurer und knallte sein Glas auf die Theke.
    Pietr trank seinen dritten opalfarbenen Aperitif, dessen Anisgeruch Maigret in die Nase drang.
    Da der Gasangestellte sich weggedreht hatte, standen die beiden Männer dicht nebeneinander.
    Maigret war zwei Köpfe größer als sein Nebenmann. Beide sahen sich dem Spiegel gegenüber, und in dessen grauer Fläche blickten sie sich an.
    Das Gesicht des Letten begann in den Augen undeutlich zu werden. Er schnippte mit seinen trockenen weißen Fingern, wies auf sein Glas und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
    Und dann spielte sich in seinen Zügen so etwas wie ein Kampf ab. Maigret sah im Spiegel bald das Gesicht des Reisenden aus dem Majestic, bald das gequälte Antlitz des Geliebten von Anna Gorskin.
    Doch dieses Gesicht behielt nie die Oberhand. Es wurde mit verzweifelter Muskelarbeit zurückgedrängt. Nur die Augen blieben die des Russen.
    Mit der linken Hand hielt er sich am Rand der Theke fest. Sein Körper schwankte.
     
    Maigret reizte ein Experiment. Er hatte das Porträt von Frau Swaan in der Tasche, das er aus dem Album des Fotografen in Fécamp genommen hatte.
    »Was macht das?« fragte er den Kellner.
    »Vierundvierzig Sous …«
    Er tat, als suche er in seiner Brieftasche, und ließ das Foto herausfallen, das in einer Lache hinter der Theke landete.
    Er kümmerte sich nicht darum, sondern hielt einen Fünf-Franc-Schein hin. Aber sein Blick war auf den Spiegel gerichtet.
    Der Kellner zeigte Bedauern, hob das Porträt auf und wischte es an seiner Schürze ab.
    Pietr, der Lette, umklammerte sein Glas fester; seine Augen waren hart, die Züge ungerührt.
    Dann gab es plötzlich ein kleines, unerwartetes Geräusch, das so deutlich war, daß der an der Kasse beschäftigte Wirt sich blitzschnell umdrehte.
    Die Hand des Letten öffnete sich und ließ Scherben auf die Theke fallen. Er hatte sein Glas langsam zerdrückt. Ein winziger Schnitt an seinem Zeigefinger blutete.
    Nachdem er einen Hundert-Franc-Schein vor sich auf den Tresen geworfen hatte, verließ er, ohne Maigret anzublicken, das Lokal.
     
    Jetzt ging er geradewegs zum Majestic. Keine Spur von Trunkenheit. Seine Haltung war dieselbe wie beim Weggang, sein Schritt ebenso fest.
    Maigret blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. Als er in die Nähe des Hotels kam, sah er, wie ein ihm bekanntes Auto abfuhr. Es war der Wagen der Spurensicherung, der die Gerätschaften für Fotoaufnahmen und Fingerabdrücke wegbrachte.
    Diese Begegnung nahm ihm allen Schwung. Für einen Augenblick verlor er jedes Selbstvertrauen, fühlte sich wie ohne Halt und ohne Stütze.
    Er ging am Select vorbei. Inspektor Dufour gab ihm durch die Scheibe ein Zeichen, das vertraulich gemeint war, aber eindeutig und für jeden sichtbar auf den Tisch der Jüdin deutete.
    »Mortimer?« fragte der Kommissar am Empfang des Hotels.
    »Er hat sich eben zur Botschaft der Vereinigten Staaten fahren lassen, wo er zu Mittag ißt …«
    Pietr, der Lette, begab sich zu seinem Tisch im noch leeren Speisesaal.
    »Möchten Sie auch essen?« fragte der Geschäftsführer Maigret.
    »Ja,

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