Maigret und Pietr der Lette
schon schütteres Haar hatte. Seine Mutter lebte in seiner Heimat als Putzfrau, und sieben Jahre lang besuchte er die Vorlesungen an der Sorbonne, ohne Strümpfe anzuhaben, und aß immer nur ein Stück Brot und täglich ein Ei.
Er konnte sich nicht die erforderlichen Bücher kaufen, und so war er gezwungen, in öffentlichen Bibliotheken zu lernen.
Er wußte nichts von Paris, kannte weder Frauen noch das Wesen der Franzosen. Aber er hatte sein Studium kaum beendet, da bot man ihm in Warschau bereits einen bedeutenden Lehrstuhl an.
Fünf Jahre später sah ihn Maigret in Paris wieder. Er wirkte genauso trocken und kalt wie früher. Er gehörte zu einer Delegation ausländischer Wissenschaftler und speiste im Elysée.
Der Kommissar hatte auch andere gekannt. Sie waren nicht alle gleich. Aber fast alle fielen durch die Menge und die Verschiedenartigkeit der Dinge auf, die sie lernen wollten und lernten.
Studieren, um zu studieren! Wie dieser Professor einer belgischen Universität, der alle Dialekte Ostasiens beherrschte (an die vierzig), der jedoch nie einen Fuß auf asiatischen Boden gesetzt hatte und sich übrigens für die Völker gar nicht interessierte, deren Sprachen er sich angeeignet hatte.
Etwas von dieser Willenskraft sprach aus den graugrünen Augen des Letten. In dem Augenblick aber, in dem man ihn dieser Sorte von Intellektuellen glaubte zuordnen zu können, entdeckte man andere Elemente in ihm, die das alles wieder in Frage stellten.
Man ahnte gewissermaßen den Schatten des Russen Fedor Jurowitsch, des Landstreichers im Trenchcoat, der sich über die klare Gestalt des Gastes aus dem Majestic legte.
Daß beide ein und derselbe Mann waren, das war eine logische und fast schon eine sinnliche Gewißheit.
Am Abend seiner Ankunft verschwand Pietr. Am nächsten Morgen begegnete ihm Maigret in Fécamp unter der Maske Fedor Jurowitschs wieder.
Er kehrte in die Rue du Roi de Sicile zurück. Wenige Stunden später betrat Mortimer das Hotel. Mehrere Personen verließen darauf das Haus, unter ihnen ein bärtiger Greis.
Und am kommenden Morgen hatte Pietr, der Lette, seinen Platz im Majestic wieder eingenommen.
Am erstaunlichsten jedoch war, daß trotz der auffälligen äußeren Ähnlichkeit kein gemeinsamer Charakter dieser beiden Verkörperungen festgestellt werden konnte.
Fedor Jurowitsch war durchaus ein slawischer Landstreicher, ein eingefleischter, schwermütiger Außenseiter. Nichts an ihm war unecht. Keinerlei Fehler zum Beispiel, als er sich in der Spelunke von Fécamp auf den Tresen stützte.
Andererseits war auch nichts an der Person des Letten auszusetzen, der von Kopf bis Fuß ein vornehmer Intellektueller war, sowohl in der Art, wie er einen Boy um Feuer bat oder seinen englischen grauen Markenfilzhut trug, als auch in der Ungezwungenheit, mit der er sich auf den sonnigen Champs-Elysées bewegte oder eine Schaufensterauslage betrachtete.
Das war eine nicht nur äußerliche Vollkommenheit. Maigret hatte selbst schon verschiedene Rollen gespielt. Wenn die Leute bei der Polizei sich auch seltener schminken und verkleiden, als man denkt, ist es doch manchmal nicht zu umgehen.
Aber auch ein maskierter Maigret blieb Maigret – zumindest in einigen Zügen, in einem Blick oder in einer charakteristischen Bewegung.
Als dicker Viehhändler zum Beispiel (das war vorgekommen, und er hatte Erfolg gehabt) ›spielte‹ er diesen Viehhändler. Doch er war es nicht. Es war eine äußerliche Figur.
Pietr-Fedor dagegen war entweder ganz Pietr oder ganz Fedor.
Der Eindruck des Kommissars ließ sich etwa so zusammenfassen: Er war sowohl der eine wie der andere, und zwar nicht allein durch die Kleidung, sondern von seinem Wesen her.
Er lebte abwechselnd diese zwei so unterschiedlichen Leben offenbar schon lange, vielleicht schon immer.
Dies waren nur unzusammenhängende Gedanken, die Maigret einfielen, während er in beschwingter Atmosphäre langsam weiterging.
Plötzlich jedoch zerfiel das Bild des Letten in tausend Stücke.
Die Umstände, die dazu führten, waren bezeichnend. Er war in der Höhe des Fouquet stehengeblieben und schien, wohl um seinen Aperitif in der Bar dieses Luxus-Etablissements einzunehmen, die Straße überqueren zu wollen.
Doch er besann sich, ging weiter und bog auf einmal mit schnellen Schritten in die Rue Washington ein.
Dort gab es eine dieser Kneipen, die mitten in den besten Wohnvierteln liegen und in denen Taxifahrer und Hausangestellte verkehren.
Pietr trat ein. Der
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