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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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besser ging.
    »Weißt du schon, wann du abgeholt wirst?«, fragte Isabell.
    Ich erzählte ihr, dass man mich morgen entlassen würde und Rotfux bestimmt zur Stelle wäre. Nur die Uhrzeit konnte ich ihr nicht sagen. Also nahm sie sich vor, mit den Kindern am Vormittag vorbeizuschauen.
    »Wir möchten dich natürlich verabschieden«, sagte sie, »und Oskar bringen wir dir dann mit.«
    Sie erzählte mir, dass das Baguette auf dem Campingplatz super gut schmecke, dass sich Paul und Corinna schon mit den Kindern der niederländischen Nachbarn angefreundet hatten, dass der graue Lieferwagen nicht mehr aufgetaucht sei und dass auch sie heute im Schwimmbad war. Sie sah gut aus, war bereits etwas gebräunt, trug die Strahlen der Sonne förmlich im Gesicht, hatte ein leichtes Sommerkleid an und Monsieur Legrand musterte sie auffällig, wie sie so verlockend neben meinem Bett saß. Als sie gerade wieder gehen wollte, kam der Professor zur Visite. Auch er taxierte Isabell von Kopf bis Fuß.
    »Gut, dass ich Sie treffe«, sagte er. »Herr König wird morgen um 10 Uhr entlassen. Der Kommissar schickt einen Wagen mit Chauffeur. Wenn Sie wollen, können Sie sich dann von ihm verabschieden.«
    Während er das sagte, zog er Isabell förmlich mit seinen Blicken aus, und ich bemerkte, dass so etwas wie Eifersucht in mir hochstieg, obwohl ich dazu eigentlich gar keinen Grund hatte.
    »Mit Ihnen ist alles in Ordnung. Alle Werte sind wieder normal«, sagte der Professor zu mir. »Sie haben wirklich einen Schutzengel gehabt.«
    Er verabschiedete sich und sprach noch mit Monsieur Legrand. Isabell kam an mein Bett und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
    »Bis morgen«, sagte sie und verließ das Zimmer.
     
    Nachdem alle gegangen waren, wurde mir meine Lage schrecklich bewusst. Morgen um 10 Uhr war es aus mit dem bisschen Freiheit, das ich bisher kannte. Ich würde abtransportiert wie ein Gefangener, beobachtet, bewacht, durfte unter Polizeischutz im Aschaffenburger Schloss Audienz halten, aber ich würde nie meine Insel sehen, wenn es sie wirklich gab, so wie sie auf dem Etikett der Weinflasche abgebildet war. Nein, das wollte ich nicht! Jetzt kam meine letzte Chance. Ich würde fliehen, würde nach Südfrankreich fahren, je schneller, desto besser, bevor sie bemerkt hatten, dass ich nicht mehr da war. Morgen um 10 Uhr würde ich bereits über alle Berge sein. Ich hätte mich noch so gerne nach Melanie erkundigt, um zu erfahren, wie es ihr ging, aber dafür war einfach keine Zeit. Außerdem wäre es viel zu riskant gewesen.
    Ich wartete, bis die Schwester mit unserem bräunlichen Schlaftrunk kam, beobachtete, wie Monsieur Legrand den Saft trank, schüttete meinen einfach ins Bett, als sich die Nachtschwester einen Moment abwandte, und tat dann so, als ob auch ich schlafen würde. Monsieur Legrand wünschte mir noch eine gute Nacht und wenig später verriet sein gleichmäßiger Atem, dass er eingeschlafen war. Adieu, guter Freund, dachte ich, während ich in meine Kleider schlüpfte. Ich stopfte ein Kissen und eine Decke, die ich als Reserve in meinem Schrank gefunden hatte, unter meine Bettdecke. Sie sah dadurch so aus, als ob darunter jemand lag, jedenfalls bemerkte man im Dämmerlicht nicht sofort, dass mein Bett leer war. Meine Badehose steckte ich in die Plastiktüte, in der mir Isabell meine Wäsche gebracht hatte. Mehr Gepäck besaß ich nicht.
    Leise schlich ich aus dem Zimmer und ging direkt zum Lift, der sich schräg gegenüber befand. ›rez-de-chaussée‹ drückte ich und betete, dass mir nur niemand begegnen möge. Noch nie kam mir eine Fahrt mit dem Fahrstuhl so lange vor, jede Sekunde empfand ich wie eine Ewigkeit, bis der Aufzug endlich unten hielt und sich die Schiebetür öffnete. Ich wagte einen Blick in die Eingangshalle der Klinik. Die Luft war rein. Jedenfalls sah ich niemanden, den ich kannte. Hoch erhobenen Hauptes ging ich an der Pforte vorbei, nickte sogar dem Pförtner zu, der sicher nicht auf die Idee kam, dass ich ein Patient sein könnte, der gerade aus der Klinik floh. Ich sah mich nicht um, als ich auf die Straße trat, ging einfach geradeaus, bis zur nächsten Kreuzung, dann ein Stück nach links und von dort sah ich schon eine breite Straße vor mir, auf der sich die Fahrzeuge zweispurig durch das Dämmerlicht schoben. ›Quai Louis Pasteur‹ las ich auf dem Straßenschild an der Ecke und ging ein Stück die Uferstraße entlang. Es war ziemlich genau 22 Uhr und das Leben in Straßburg pulsierte noch.

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