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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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konnte ich nichts, aber es klang nach Italien, es klang nach Venedig, es klang nach prallem Leben, das hier in den Gassen pulsierte.
    Als ich nach oben sah, blieb mir fast das Herz stehen. Ich sah die alte Wahrsagerin, die mir schon am Bahnhof Santa Lucia begegnet war. Hier wohnte sie also. Sie trug jetzt kein Kopftuch und ihre Haare waren geöffnet. Schneeweiß und kräftig hingen sie ihr über den Schultern.
    »Ich wusste, du kommen«, rief sie von oben.
    Augenblicklich verstummte das Stimmengewirr über mir.
    »Du warten, ich dich holen«, rief sie und zog ihren Kopf aus dem geöffneten Fenster zurück.
    Ich dachte natürlich gar nicht daran, auf sie zu warten. Im Gegenteil! Ich sagte: »Oskar, Fuß!«, zog kurz an der Leine und ging schnell an diesem Haus vorbei. Doch bald hörte ich Schritte auf dem Pflaster hinter mir. Ich sah mich um und wunderte mich, wie viel Kraft und Schnelligkeit in der alten Frau steckten. Mit wehenden Haaren kam sie mir in ihrem dunklen Kleid, das bis zum Boden reichte, hinterher.
    Ich beschleunigte meine Schritte. Oskar musste fast rennen. Er flog mit seinen kleinen Dackelbeinen förmlich über das Pflaster.
    »Stopp. Du halten! Schöne Zukunft!«, rief sie.
    Sie war etwas außer Atem, ließ jedoch nicht locker. An der nächsten Ecke bog ich rechts in eine schmale Gasse ab. Sie war so schmal, dass ich mit ausgebreiteten Armen fast die gegenüberliegenden Hauswände berühren konnte. Ein feuchter Geruch lag in der Luft. Aus einem Fenster hörte man Musik. Sonst war die Gasse finster und verlassen, und Oskar spähte aufmerksam in die Dunkelheit. Ich sah, dass er den Schwanz senkte und ihn dann einzog. Es schien ihm hier unheimlich zu sein.
    Wir mussten nun langsamer gehen, um nicht gegen Hausecken zu rennen oder über Gerümpel zu stolpern, das vor den Eingängen der verfallenen Häuser lag. Das war natürlich die Chance der Alten. Ich hörte hinter mir wieder ihre Schritte auf dem Pflaster und sah sie langsam näher kommen. Gespenstisch sah sie aus. In der Dunkelheit war nur ihr Kopf zu sehen, dessen weiße Haare sich leuchtend vom Schwarz der Nacht abhoben. Es sah aus, als ob mir ein Kopf ohne Rumpf folgte, da ihr Körper in dem schwarzen bodenlangen Kleid in der Dunkelheit nicht zu sehen war.
    Plötzlich stieg vor mir eine Häuserwand aus der Dunkelheit auf. Mist! Sackgasse, schoss es mir durch den Kopf.
    »Du Vorsicht! Du halten«, rief die Alte von hinten.
    Jetzt saß ich in der Falle. Ich fing mich an zu fragen, ob es nicht das Beste wäre, der alten Frau ihre 20 Euro zu geben und dafür meine Ruhe zu haben.
    »Achtung, kommt Wasser«, rief die Alte.
    Ich verstand nicht gleich, was das bedeutete. Erst als Oskar bellend stehen blieb und rückwärts an der Leine zog, sah ich den Kanal. Wenige Schritte vor mir endete die Gasse ganz abrupt an einer schmalen Wasserstraße. Endstation, dachte ich.
    Nicht einmal richtig beleuchtet war die Stelle und ich verstand inzwischen, warum die Alte Vorsicht gerufen hatte. Sie kam näher. Ein zufriedenes Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
    »Ich wusste, du kommen«, sagte sie noch etwas außer Puste.
    Dann griff sie wieder nach meiner linken Hand und strich mit ihren dürren Fingern darüber. Ich zog meine Hand diesmal nicht weg und war ihr auch nicht mehr böse. Ich roch das Wasser des Kanals, hörte es gegen die Grundmauern der Häuser plätschern und hatte das Gefühl, dies war ihr Revier. Hier hatte nur sie etwas zu sagen.
    Oskar saß neben mir am Boden und hatte immer noch den Schwanz eingezogen. Er knurrte die Wahrsagerin an, bellte aber nicht.
    »Du schöne Zukunft«, sagte die Alte. »Heute nur zehn Euro, weil du gekommen.«
    Aha, Haustarif, dachte ich und zückte meinen Geldbeutel.
    »Erst Zukunft, dann zahlen«, lachte sie.
    Sie zog mich zur Hausecke direkt am Kanal und ich sah, dass dort eine steinerne Bank aus Ziegelsteinen an das Haus gemauert war. Sie setzte sich und als ihr Kleid sich etwas nach oben schob, sah ich ihre Füße in einfachen Plastiksandalen stecken, derbe, dickhäutige Füße, die zu dieser Gasse in Venedig passten.
    »Du dich setzen«, sagte sie. Ich wunderte mich, dass sie ziemlich gut Deutsch sprach, wenn auch ihre Sätze nicht ganz stimmten. Ich setzte mich neben sie und entdeckte, dass sie in ihrer Jugend sicher eine Schönheit gewesen war, mit pechschwarzem vollem Haar. Wie eine rassige Südländerin kam sie mir vor, die sich hier in Venedig zur Ruhe gesetzt hatte und ab und zu ihren Geschäften nachging.
    Sie nahm

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