Make it count - Gefühlsbeben (German Edition)
den Straßen spielen können, wo sie am Hafen die Fischer beobachten und ihre Milchshakes am Pier genießen. Familien kommen im Sommer in meinen Heimatort, um Urlaub zu machen, die Seele baumeln zu lassen, durchzuatmen … Nur mir gelingt das nicht. Immer komme ich mit diesem erdrückenden Gefühl zurück, dass ich hier vor allem eine große Leere vorfinde, die sich nicht mehr füllen lässt.
Für Dave muss ich stark sein. Bei meinen Eltern muss ich das fröhliche College-Mädchen spielen, weil sie sich sonst doch nur wieder Gedanken machen. Sie würden nicht verstehen, wie sehr ich nach drei Jahren immer noch mit Simons Tod zu kämpfen habe. Sicher, sie haben ihn notgedrungen akzeptiert, aber er war auch nur einer dieser Schulfreunde ihrer Tochter, den sie nach einigen Jahren nicht mehr sehen würden. Seelenverwandte – das ist ein Fremdwort für sie. Da ich mit Simon nur befreundet und nicht in einer Beziehung war, können seine Spuren in meinem Leben offenbar nicht so nachhaltig gewesen sein. Um mich zu verstehen, müsste ich ihnen sagen, wie leer unser Haus während meiner Kindheit gewesen ist. Wie wenig wir überhaupt eine Familie waren. Das würde die Illusion zerstören, die sie für Außenstehende all die Jahre aufgebaut haben.
Langsam schlendere ich durch die Straßen in Richtung Pier, wo ich mir einen kleinen Happen genehmigen will, bevor ich zu meinen Eltern muss. So ein grauenhaft-fröhliches Familienessen ist wirklich das Letzte, was ich gerade brauchen kann. Alles wie immer. Ich müsste wieder eine Rolle spielen und manchmal, wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, da wünsche ich mir nichts mehr, als „Ich” sein zu dürfen. Einfach nur Lynn. Die Lynn, die ich bei Simon sein durfte.
Unvorstellbar, dass es noch schwüler werden könnte. Selbst die Brise vom Meer trägt nicht wirklich zu einer Erfrischung bei. Also kaufe ich mir am Kiosk beim Pier eine kühle Pepsi und beobachte die kleinen Boote, die hin- und hergeschaukelt werden. Irgendwo toben einige Jugendliche durchs Wasser und suchen auf diese Art ihre Abkühlung. Ich muss schmunzeln. Vor einigen Jahren war ich selber da unten am Strand. Gar nicht so lange her. Jetzt kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Dabei bin ich gerade mal Anfang zwanzig.
„Hey!”
Ich zucke erschrocken zusammen, als sich eine Gestalt neben mich an die Brüstung lehnt: Jared. Mit ihm habe ich so gar nicht gerechnet. Sollte er nicht schon auf dem Heimweg sein? Verdutzt sehe ich ihn, wie er im Licht der untergehenden Sonne neben mir lehnt und mich anlächelt.
„Was machst du hier?”
Er schiebt sich die Brille in die Haare und zuckt die Schultern. Wie kann er jetzt, Stunden später, tatsächlich besser aussehen als heute, als er mich am Straßenrand aufgesammelt hat? Er ist hier. Einfach so.
„Ich genieße die Aussicht.”
Er soll die Aussicht aber nicht genießen. Er soll in seinem Wagen sitzen und nach Boston fahren. Weg von hier. Weg von mir. Zu viel Nähe kann ich nicht ertragen. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich will ihn anfassen, ihn umarmen. Er soll mich festhalten.
„Jared … Wieso bist du noch hier? Geh bitte.”
Oder nimm mich in den Arm und lass mich nie wieder los.
Kopf und Herz führen wirklich eine beeindruckende Schlacht in mir.
„Ist das der Dank für meine Dienste als Chauffeur?”
Er hebt die Hände und sieht mich gespielt enttäuscht an. Moment! Ich mustere sein Gesicht, wo sich ein Grinsen ausbreitet und mir einen tiefen, aber festen Stich verpasst. Natürlich. Er erwartet eine Gegenleistung. So wie alle Kerle. Wie naiv bist du eigentlich, Lynn Chase? Hast du gedacht, er fährt dich aus lauter Nettigkeit mal eben so durch die Gegend? Genau das passiert, wenn man sich zu sehr darauf einlässt: Man verliert die Realität aus den Augen.
„Ach, darum geht es dir?”
Wütend verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe ihn schnaufend an. Ich bin so eine Idiotin! Da dachte ich tatsächlich für einen kurzen Moment, Jared Parker wäre nicht so wie die Kerle, die sich im Red Lion Pub rumtreiben. Vermutlich hätte ich sogar den Fehler gemacht und ihm einen kurzen Blick auf mein echtes Ich gestattet. Mein Körper spannt sich an, die Maske sitzt mit einem Schlag wieder perfekt. Vorbei ist der Moment der Schwäche. Jared zuckt grinsend die Achseln.
„Ich dachte, ein kleines Dankeschön wäre angebracht.”
Sein Grinsen wird breiter und ich will ihn ohrfeigen. Eigentlich will ich mich ohrfeigen, weil ich so dumm war und mich fast geöffnet
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